Laufend scheitern

Im Betriebsrat werden gemeinsam Lösungen für das Colearning entwickelt ¯\_(ツ)_/¯
Im Betriebsrat werden gemeinsam Lösungen für das Colearning entwickelt ¯\_(ツ)_/¯

Vor knapp sechs Monaten sind wir mit 8 Jugendlichen in unser Colearning Abenteuer gestartet. Wir hatten Träume und viele Ideen. Wir wollten die Lernumgebung von Oberstufenschüler*innen und die Arbeitswelt von Erwachsenen zusammen bringen. Und wir gingen so vor, wie wir das im Effinger gerne tun:

Nicht allzu lange reden, Mitstreiter suchen und so bald wie möglich ausprobieren.

Klar haben wir auch geplant und ein Konzept erstellt. Doch erst wenn man in die Umsetzung geht, merkt man, was wirklich funktioniert.

Garantierter Erfolg

Ich würde sagen, das Colearning ist richtig erfolgreich. Das war auch nicht schwierig. Denn Colearning heisst ja, dass wir zusammen etwas lernen. Wenn eine Gruppe neugierig ist, zusammen etwas wagt und sich in einer sicheren und inspirierenden Umgebung bewegt, dann passiert fast automatisch ganz viel Lernen. Das heisst, sogar wenn wir aus irgend einem Grund aufhören müssten, wären schon die lehrreichen Erfahrungen bis da hin ein Erfolg.

Lernen tun wir und zwar auf ganz vielen Ebenen. Speziell auch wir Erwachsene lernen viel und nehmen die Jugendlichen in unsere Lernerfahrung mit hinein. So lesen sie (hoffentlich 😜) auch diesen Blogeintrag und sehen, welche Gedanken ich mir zum Projekt mache.

Was alles nicht klappt

Anstatt uns weiter auf die Schultern zu klopfen - was ich grad eher langweilig finde - erzähle ich mal, was alles nicht oder noch nicht klappt. Keine Angst, wir sind nach wie vor mit Überzeugung dabei, haben Colearner und Eltern, die uns vertrauen und ermutigen, ein grossartiges Team und viele Leute, die uns motivieren und unterstützen. Bestimmt könnt ihr zwischen den folgenden Zeilen auch das eine oder andere erkennen, das doch nicht allzu schlecht läuft.

Zu wenig Kommunikation

Aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommen Leute, die sich für uns und das Colearning-Projekt interessieren (sogar jemand aus Michigan, USA hat unser Konzept gefunden und auf Englisch übersetzt). Für den Newsletter auf unserer Website haben sich bereits 100 Personen angemeldet. Nur leider schaffen wir es nicht, diese Leute mit Informationen zu versorgen. Im ganzen 2019 haben wir gerade mal drei Newsletter verschickt. Auf Facebook und Twitter läuft gar nix.

Kaum Einbindung von Experten

Wir haben einen eher versteckten Link auf der Website, wo sich Leute melden können, die für ein Thema eine Leidenschaft haben und bereit wären, als “Experten” einen Beitrag im Colearning zu leisten. Ohne dies gross zu bewerben, haben sich schon 25 Personen gemeldet. Es ist fast alles dabei: von Aviatik, Gastronomie, Trompete, Physik, Sport und Backen bis Improvisationstheater und Musikaufnahmen im Tonstudio. Wir waren aber bisher so stark mit uns selbst beschäftigt, dass wir noch keinen Weg gefunden haben, diese Experten sinnvoll einzubinden. Ein grosser Reichtum und wir haben es noch nicht mal geschafft, die Experten überhaupt zu kontaktieren. Sorry…

Unsichtbares Lernen

Gelernt wird. Nur leider schaffen wir es bisher nicht, die vielfältigen Lernprozesse sichtbar zu machen. Und das wäre enorm wichtig. Einerseits geht es natürlich darum, dass man beim Reflektieren selber etwas lernt. Und wenn man später zurück schaut, dann motiviert es und macht stolz, was man schon alles erreicht hat.

Es geht aber um mehr: Die Schulinspektoren möchten sehen, was gelernt wird und die Eltern und alle, die am Projekt beteiligt sind, freuen sich über Lernerfolge. Ein schönes Portfolio erleichtert ausserdem den Einstieg in die Arbeitswelt (sowohl als Selbständige wie als Arbeitnehmer). Und nicht zuletzt nutzen wir im Effinger Räume, sind verspielt und manchmal laut. Wenn die Coworker sehen, was für tolle Geschichten bei uns entstehen, dann haben sie auch mehr Verständnis für all die Nebeneffekte.

Klar, wir versuchen es mit Lerntagebuch und anderen Formaten. Aber wirklich erfolgreich waren wir damit noch nicht. Unsere Hoffnung ist, dass wir Wege finden, die Spass machen. Doch vielleicht bleibt Reflexion halt immer ein Stück mühsame Arbeit. Auch mir fällt es nicht leicht. Um diesen Blogeintrag zu schreiben, musste ich mich überwinden. Für diesen Text brauche ich über 3 Stunden und natürlich hätte ich ganz viel andere Dinge auch noch zu erledigen. Aber wenn der Blogeintrag dann steht, bin ich richtig glücklich. 🙌

Wenig Interaktion mit Erwachsenen

Autsch. Das war doch genau eine Hauptidee des Projektes, dass wir das vielfältige Umfeld im Coworking Space nutzen, damit die Jugendlichen eintauchen können in die Arbeitswelt der Erwachsenen. Ich habe mir vorgestellt, wie ganz viel gelernt wird durch das Dabei sein, Beobachten und Mitmachen. Tatsächlich sind wir ganz nah und manchmal sitzen die Colearner neben einer Texterin, einem Philosophen oder neben dem Zimmermann, der gerade seine Pläne zeichnet. Doch das heisst noch nicht, dass Interaktion stattfindet. Vielleicht passiert mehr, als man denkt, aber ich hätte mir das schon etwas anders erhofft. Die Bereitschaft der Coworker wäre da, Einblicke zu geben oder Colearner mit zu nehmen. Aber die Hürde für die Jugendlichen ist meist noch zu gross, um auf die Erwachsenen zu zu gehen und die Erwachsenen sind sich in ihrem geschäftigen Alltag auch nicht gewohnt, die Colearner wie selbstverständlich bei interessanten Arbeiten mitlaufen zu lassen.

Haben wir uns so daran gewöhnt, dass Kinder und Jugendliche im Schulzimmer sitzen, während Erwachsene im Büro arbeiten, dass wir gar nicht mehr wissen, wie ein Miteinander aussehen könnte?

Fehlende Initiative und Selbständigkeit

Irgendwie hatten wir gedacht, dass die Jugendlichen vor Ideen sprudeln würden und nur darauf warten, motiviert und selbständig eigene Projekte durchzuführen. Das hat sich schwieriger herausgestellt, als gedacht. Mit anderen Worten: Wir haben es bisher noch nicht geschafft, die Balance aus Struktur und Freiheit so zu treffen, dass produktives Arbeiten und Lernen über längere Zeit funktioniert.

Knappe Finanzen

Die Beiträge der Eltern ist im Moment unsere einzige Einnahmequelle. Die Hälfte des Geldes brauchen wir für die Infrastruktur und die andere Hälfte für die Lernmoderator*innen. Es ist nicht viel, aber bisher war es trotzdem genug. Bei unseren regelmässigen Schatzhebungstreffen haben alle bestätigt, dass für sie die Balance aus Geben und Empfangen stimmt.

💰 Wenn dies jemand liest, der unsere Lernabenteuer finanziell unterstützen könnte, dann würde uns das sehr helfen. Zum Beispiel möchten wir gerne ein Jahresabo lösen für eine Quartierwerkstatt. Aber dafür ist unser Geld zu knapp. (Update: Mit einer Spende konnten wir das Werkstattabo für ein Jahr finanzieren. Herzlichen Dank an Rolf, Mitgründer ImpactHub Bern)

Fehlende Wachstumsmöglichkeit

Wir haben wenig in Kommunikation nach Aussen investiert und die Medien haben sich auch nicht für uns interessiert. Ich persönlich bin recht froh darüber, dass wir noch unter dem Radar einer grösseren Öffentlichkeit losfliegen konnten. Denn wir müssten sonst viele Fragen beantworten, auf die wir selber noch keine (geprüften) Antworten haben.

Trotzdem haben uns schon einige Familien entdeckt und ihr Interesse am Colearning angemeldet. Wir haben aber nicht wirklich Platz, um im Effinger viel weiter zu wachsen. Vielleicht ist das auch gut so. Denn unsere Vision ist sowieso grösser, als ein einziges Gebäude fassen könnte. Du darfst dich also gerne bei uns melden und dann erzählen wir, wie das Ganze weiter wachsen könnte.

Schöner scheitern

Im Colearning scheitern wir also laufend. Aber irgendwie ist das gar nicht so schlimm.

Ist das Colearning nicht gerade darum eine optimale Lernumgebung, weil wir hier alle ganz viel scheitern dürfen?

“Laufend scheitern” heisst auch, dass wir in Bewegung bleiben. Wir helfen einander auf die Beine und laufen weiter. So lernen wir ganz viel, erleben Erfolge und übernehmen immer mehr Verantwortung auf unserem Weg in die Welt der Erwachsenen.

Ich frage mich: Kann man in einem Umfeld, wo Lernen stattfindet ohne ständiges Vergleichen und Beurteilen, überhaupt noch von Scheitern sprechen? Vielleicht sollten wir unser Konzept von Scheitern ganz grundsätzlich hinterfragen.

Auf jeden Fall bin ich sehr motiviert für die nächste Etappe im Colearning. Gemeinsam mit den Jugendlichen haben wir im Betriebs- und Juniorrat bereits einige Lösungsansätze entwickelt, wie wir die oben beschriebenen Herausforderungen kreativ anpacken können. Man darf also gespannt sein.