Blinde Flecken meiner Zeit

Während ein paar Tagen Ferien habe ich im Supermarkt ein Magazin gekauft. Es ist der Beobachter mit der Titelgeschichte “Zwangsarbeit für Bührle”. Führsorgeämter haben in den 1950er-Jahren hunderte Mädchen zur Zwangsarbeit in eine Spinnerei geschickt. Es ist eine Spinnerei von Emil Bührle, ein Waffenfabrikant, Kunstsammler, Mäzen und der damals reichste Schweizer. Der Journalist Yves Demuth bringt nach 70 Jahren Licht in ein dunkles Kapitel Schweizer Geschichte.

Damals!

Der Artikel erzählt das Schicksal der 85-jährigen Zeitzeugin Elfriede Steiger. Eigentlich war Zwangsarbeit zum Vorteil von privaten Unternehmen schon seit über zehn Jahren verboten und doch hatten die Behörden und die Wirtschaft zusammengespannt, um die Arbeitskraft junger Frauen auszunutzen. Es macht mich traurig und wütend. Wie konnte so etwas geschehen? Warum hat niemand hingeschaut und etwas dagegen getan? War es ein blinder Fleck der Gesellschaft von damals?

Heute?

Diese Geschichte lässt mich nicht los. Immer wieder frage ich mich, was die blinden Flecken von heute sind. Was werden die nächsten Generationen herausfinden über die Zeit, in der ich lebe?

Ich gehöre zu einem privilegierten Teil der Gesellschaft und habe viel Gestaltungsmöglichkeiten. Damit trage ich eine entsprechende Mitverantwortung für das, wie wir als Gesellschaft miteinander, mit anderen und mit der Welt umgehen.

Wo könnten also die Geschichten sein, für die wir blind sind? Klar, blinde Flecken kann man nicht sehen, sonst wären es keine blinden Flecken mehr. Aber meistens sieht man doch etwas weiter weg die Schatten im Nebel. An solchen Schatten gehen wir lieber vorbei und wollen nichts gesehen haben.

Mir kommen einige Schatten im Nebel in den Sinn, bei denen es sein könnte, dass sich unsere Enkelkinder fragen werden, wie wir nur so handeln oder nicht-handeln konnten:

  • Verheizen wir nicht etwas gar viele Ressourcen unseres Planeten?
  • Wer wird all unseren Müll im Wasser, in der Luft und sogar im Weltall aufräumen?
  • Wie geht es den Menschen, die irgendwo weit weg unsere Güter herstellen?
  • Welche Auswirkungen hat es, wenn unserer Produkte um den ganzen Planeten reisen?
  • Was passiert, wenn wir für den Arbeitsmarkt immer flexibler und mobiler werden und dazu Familien- und Nachbarschaftsstrukturen auflösen?
  • Ist es wirklich kein Problem, wenn Private, Unternehmen und Staaten immer mehr Schulden anhäufen?
  • Wie werden die Kinder in 20 Jahren über uns denken, wenn sie auf ihre Schulzeit zurückschauen? Wurden sie als Objekte beschult oder sind wir ihnen als Subjekte begegnet?
  • Durften die Kinder ganz viel ausprobieren und unperfekt sein? Konnten sie ihre Freude am Entdecken und Lernen behalten, so dass sie ein Leben lang nicht damit aufhören wollen?
  • Schaffen wir Grundlagen, damit die nächsten Generationen ihre Begabungen optimal entfalten können? Denn falls wir es mit der Natur, der Wirtschaft oder der Gesellschaft verbocken, werden sie in einer sehr herausfordernden Zeit leben und all ihre Talente brauchen, um trotz der Umstände ein gelingendes Leben führen zu können.

Ihr merkt schon, welche Themen mich beschäftigen und was um mich herum im Nebel auftaucht. Das sind natürlich die eher grossen und zum Teil offensichtlichen Themen unserer Zeit.

Wo sind die kleinen Dinge, auf die niemand schaut? Welche Schatten im Nebel erkennst du um dich herum?

Was auch immer wir im Nebel wahrnehmen, die Frage ist schliesslich: Gehen wir daran vorbei oder machen wir uns zuständig?

Hingehen, hinsetzen, handeln

Wir müssen es wagen, in den Nebel hinein zu gehen. Oft wird die Situation, die wir antreffen, unübersichtlich, komplex und mehrdeutig sein (→VUCA-Welt). Meistens ist es schwierig, ein Problem nur schon zu erkennen. Aber auch wenn wir Missstände finden, sollten wir nicht die schnelle Lösung suchen; die ist selten nachhaltig und ist oft eher eine Flucht, um wieder wegzukommen.

Wahrer Mut ist, wenn man auch dann bleibt, wenn man für ein Problem keine Lösung sieht. Dann sollte man sich in der Nähe des Problems hinsetzen und es so lange aushalten, bis im Nebel sichtbar wird, was man tun kann. Und dann müssen wir uns mit anderen zusammenschliessen und handeln.

Ich finde es eine riesige Herausforderung, in einer so komplexen Welt zu leben und die Augen nicht zu verschliessen. Die Verantwortung und enorme Aufgabe fühlt sich für mich an wie eine grosse Last und eigentlich möchte ich doch mit Leichtigkeit und Freude durch das Leben gehen.

Mich inspirieren dazu Texte aus der Bibel, die darauf hindeuten, wie es sich anfühlen kann, wenn ich nicht versuche Lasten zu trage, wo ich nichts bewirken kann, jedoch die Verantwortung dort wahrnehme, wo ich etwas ausrichten kann:

»Kommt zu mir, ihr alle, die ihr euch plagt und von eurer Last fast erdrückt werdet; ich werde sie euch abnehmen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, denn ich bin gütig und von Herzen demütig. So werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn das Joch, das ich auferlege, drückt nicht, und die Last, die ich zu tragen gebe, ist leicht.«

Matthäus 11,28-30