Zinslose Darlehen mit Verfallsdatum

Money Lenders von Thomas Rowlandson, Metropolitan Museum of Arts
Money Lenders von Thomas Rowlandson, Metropolitan Museum of Arts

Im ersten Moment klingt es verrückt: Warum sollte jemand ein zinsloses Darlehen geben mit einem Verfallsdatum, an dem die Schuld erlischt? In diesem Artikel versuche ich darzulegen, wie das spezielle Darlehen funktioniert, wo es eingesetzt werden kann und welche Auswirkungen es auf Menschen, Beziehungen und die Gesellschaft hat.

Zuerst schauen wir uns die konventionelle Form von Darlehen an. Wenn man all die negativen Effekte von Zins und Schulden in der Wirtschaftsgeschichte und bis zur Gegenwart betrachtet, so erscheint es plötzlich nicht mehr ganz so verrückt, über Alternativen nachzudenken.

Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.

Albert Einstein (angeblich)

Konventionelle Darlehen

Nehmen wir das Beispiel, dass jemand sich in der Form eines Darlehens Geld leiht von einer anderen Person, einer Bank oder einer Firma. Das geliehene Geld soll für ein unternehmerisches Vorhaben eingesetzt werden. Dieses Schuldverhältnis hat Auswirkungen auf verschiedenen Ebenen:

  • Abhängigkeit: Die Partei, die das Geld empfängt, hat die Verantwortung, das Geld gewinnbringend einzusetzen und später wieder zurückzuzahlen. Die Partei, die das Darlehen gibt, ist meist in der machtvolleren Position. Es entsteht Abhängigkeit in einem Machtverhältnis.
  • Schuldenlast: Egal wie sich das Unternehmen oder das Projekt entwickelt, der Darlehensgeber kann seine Macht ausüben und das Geld am Ende der Laufzeit zurückfordern. Die meisten Darlehen haben ausserdem einen Zins, womit die Schulden mit der Zeit grösser werden. Wenn der Schuldner das Darlehen inklusive Zinsen nicht zurückzahlen kann, muss er privat oder mit dem Unternehmen in Konkurs gehen oder landet bis heute in manchen Ländern gar in Schuldknechtschaft, einer Form der Sklaverei.

Auffallend ist das Ungleichgewicht zwischen Darlehensgeber und Schuldner. Die Zinstheorien in der Ökonomie lehren, dass dies schon seine Richtigkeit hat, denn schliesslich würde ein Darlehensgeber auch ein Risiko eingehen (Risikoprämie) und er könnte das Geld selbst verwenden, indem er es für Konsum ausgibt oder selbst wirtschaftlich tätig wird (Opportunitätskosten).

Die übliche Form des Darlehens sorgt in der Tendenz dafür, dass Unterschiede vergrössert und Leute voneinander distanziert werden. Braucht es wirklich den Zins und die anderen Vorteile für Darlehensgeber, damit überhaupt jemand bereit ist, Geld auszuleihen? Gibt es nicht auch Finanzierungsformen, bei denen Menschen und Beziehungen gestärkt werden?

Zinslose Darlehen mit Verfallsdatum

Missstände provozieren mich, nach Alternativen zu suchen. Eine solche Alternative ist das zinslose Darlehen mit Verfallsdatum. Zuerst ist dieser Gedanke gewöhnungsbedürftig, weil unsere Intuition für Geld und Schulden in eine andere Richtung trainiert ist. Ich konnte diese Darlehensform bereits bei mehreren Projekten ausprobieren und bin begeistert von den Auswirkungen.

Darlehensvertrag

Das zinslose Darlehen mit Verfallsdatum ist zuerst ein ganz normales Darlehen. Im Darlehensvertrag wird Folgendes festgelegt:

  • Höhe des Darlehens
  • Zinslosigkeit: Es wird ein Zins von 0% vereinbart. Die Entscheidung über eine allfällige Belohnung oder Wertschätzung wird dem Darlehensnehmer überlassen.
  • Rückzahlung: So bald wie möglich, wenn bestimmte Bedingungen eingetroffen sind. Spätestens am Ende der Laufzeit.
  • Verfallsdatum: An diesem Datum wird die Schuld erlassen, wenn sie nicht zurückbezahlt werden kann.
  • Informationspflicht: Abmachungen über die Art und Häufigkeit von Informationen zum Stand des Projektes.

Schauen wir uns die einzelnen Bestandteile und ihre Auswirkungen etwas genauer an.

Warum zinslos?

Ich halte es für legitim, angemessenes Geld für geleistete Arbeit zu erhalten. Geld gegen Zins auszuleihen, ist mir allerdings suspekt. Oder versuche mal, einem Kind zu erklären, wie Geld mittels anderen Geldes verdient wird.

Zinsen können negative Effekte auf Menschen und die Gesellschaft haben. Nicht ohne Grund findet man etliche Zinsverbote in der Wirtschaftsgeschichte (siehe Fussnoten).

Bei der Vergabe von zinslosen Darlehen ist ein entscheidender Faktor, ob man die Person kennt. Wenn jemand in der eigenen Umgebung oder Community ein Darlehen benötigt, so braucht man keinen Zins zu verlangen. Man kann darauf vertrauen, dass auf verschiedenen anderen Wegen wieder etwas zurückfliessen wird.

Zum Beispiel hat es positive Auswirkungen auf mein Leben, wenn gute Projekte in meiner Umgebung erfolgreich sind. Auf lange Sicht wird auch die Region und die lokale Community gestärkt, weil weniger Geld von Banken geliehen werden muss und damit weniger Gelder aus der Community über den Zins abfliessen. Ein anderer Effekt ist, dass sich die Community merkt, wer grosszügig ist mit anderen und damit steigt die Chance, dass andere auch gegenüber mir mit Grosszügigkeit antworten.

Warum ein Verfallsdatum?

Schulden sollen zurückbezahlt werden - am besten so bald wie möglich. Was aber geschieht, wenn es jemand auch am Ende der Laufzeit eines Darlehens nicht schafft, mit einem Projekt genug Gewinn zu erwirtschaften, um die Schulden zu begleichen?

Der Darlehensgeber kann sein Recht geltend machen und das Darlehen zurückfordern. Damit drängt er den Schuldner dazu, entweder das Projekt aufzugeben und in Konkurs zu gehen oder sich an anderen Orten weiter zu verschulden. In Notsituationen erhält man schlechtere Konditionen und so gerät der Schuldner mit hohen Zinsen immer tiefer in die Schuldenspirale.

Der Darlehensgeber kann aber auch auf seine Forderung verzichten und die Schulden streichen. Dieses Prinzip des Schuldenerlasses findet sich in den alten Schriften der Bibel. Dort ist der Schuldenerlass institutionalisiert und findet jedes siebte Jahr im sogenannten Sabbatjahr statt. Der Sinn davon war, dass Leute, die sich verschuldet haben, eine neue Chance erhalten und neu beginnen können. Der Anthropologe David Graeber hat eine umfangreiche Studie zur Geschichte der Schulden als Buch veröffentlicht. Er beschreibt eindrücklich, wie in der Menschheitsgeschichte immer wieder Familien durch Schulden in Knechtschaft und Sklaverei geraten sind:

Vor allem in Jahren schlechter Ernten verschuldeten sich die Armen bei ihren reichen Nachbarn oder bei wohlhabenden Geldverleihern in den Städten. Sie verloren das Besitzrecht an ihren Feldern und wurden Pächter auf eigenem Grund und Boden. Ihre Söhne und Töchter wurden verschleppt, um als Knechte und Mägde in den Haushalten ihrer Gläubiger zu arbeiten, oder sie wurden als Sklaven ins Ausland verkauft.

David Graeber, Schulden: die ersten 5'000 Jahre, 2012, S. 104.

Nach 500 Seiten sorgfältiger Analysen von vielen alten und neuen Kulturen gibt Graeber im letzten Abschnitt eine Empfehlung:

In diesem Buch habe ich es weitgehend vermieden, konkrete Vorschläge zu machen. Aber abschliessend möchte ich eine Anregung geben. Ich habe den Eindruck, ein Ablassjahr nach biblischem Vorbild ist überfällig[…].

David Graeber, Schulden: die ersten 5'000 Jahre, 2012, S. 495.

Was ich aus den alten Schriften lerne (siehe Fussnoten): Es besteht eine starke moralische Verpflichtung, jegliche Schuld zurückzuzahlen. Doch irgendwann - spätestens nach sieben Jahren - gilt das höhere Prinzip der Freiheit. Die Freiheit ist langfristig wichtiger, als den Druck aufrecht zu halten gegenüber dem Schuldner und seiner Familie. So gibt der Schuldenerlass dem Schuldner die Chance, wieder aufzustehen und es neu zu versuchen.

Inspiriert von diesen Texten habe ich mir überlegt, wie sich so etwas heute realisieren liesse. Ein festes Jahr für den Schuldenerlass zu bestimmen, macht wenig Sinn. Das würde dazu führen, dass kurz vor diesem Jahr kaum jemand ein Darlehen vergeben würde, weil keine Zeit bleibt, die Schuld zurückzuzahlen. Dieses Problem hat im ersten Jahrhundert n. Chr. der jüdische Gelehrte Rabbi Hillel auch schon kritisiert, weil er gesehen hat, dass die Armen vor dem Erlassjahr keine Kredite mehr bekamen.

Aus diesen Gedanken entstand die Idee, eine Darlehensform zu entwickeln, bei der der Schuldenerlass fest eingebaut ist. Dies wird erreicht mit dem Verfallsdatum. Die Dauer und die genauen Bedingungen des Darlehensvertrages können je nach Bedarf angepasst werden.

Generell gilt das Prinzip, dass die Schuld so bald wie möglich zurückbezahlt werden soll. Wenn dies jedoch bis zum Verfallsdatum nicht gelingt, so wird die Schuld erlassen.

Auswirkungen

Das Verfallsdatum bewirkt, dass jemand nur dann ein Darlehen vergibt, wenn er dem Darlehensnehmer zutraut, dass er das Darlehen während der Laufzeit zurückzahlen kann. Auch während der Laufzeit wird der Darlehensgeber ein Interesse daran haben, über den aktuellen Stand regelmässig informiert zu werden. Falls er Möglichkeiten sieht, etwas zum Gelingen des Vorhabens beizutragen, so wird er es tun. Die Erfolgschancen des Projektes werden erhöht. Beide Parteien haben das gleiche Ziel und ganz im Gegensatz zu konventionellen Darlehen begegnen sich Darlehensgeber und -nehmer auf Augenhöhe. In der Tendenz finden Menschen näher zusammen und Beziehungen werden gestärkt.

Darlehen mit Verfallsdatum kommen hauptsächlich dort zum Einsatz, wo eine gewisse Nähe zum Vorhaben besteht. Es muss möglich sein, während der Laufzeit des Darlehens direkt mit dem Darlehensnehmer in Kontakt bleiben zu können.

Die Beziehung und der Informationsfluss zwischen Darlehensgeber und -nehmer ist wichtig. Wenn eine soziale Nähe da ist, fühlt der Darlehensgeber eine starke Verpflichtung, alles dafür zu tun, das Geld so bald wie möglich zurückzuzahlen. Wenn es in der definierten Zeit bis zum Verfallsdatum nicht gelingt, so setzen sich Darlehensgeber und -nehmer an einen Tisch, schauen, was schief lief und beschliessen den Schuldenerlass. Dies ist schmerzhaft für beide Parteien. Es bewirkt aber, dass niemand durch eine Schuld zu lange gefangen bleibt und wieder frei wird, um für sich und sein Umfeld zu sorgen.

Wer wagt, gewinnt

Wer hilft mit, Menschen und Projekte zu fördern? Wer hat den Mut, Geld als zinsloses Darlehen mit Verfallsdatum zur Verfügung zu stellen, damit andere damit aktiv werden können?

Ich bin überzeugt, dass der Gewinn viel höher sein wird als bei anderen Darlehensformen. Um diesen Gewinn zu sehen, muss man sich etwas lösen vom individualistischen Denken. Denn der Gewinn wird nicht über einen Zins direkt auf das eigene Bankkonto fliessen. Vielleicht wird gar das eine oder andere Mal ein Darlehen nicht mehr zurückbezahlt.

Der Gewinn wird sich darin zeigen, dass es der Region und der lokalen Community besser gehen wird. Und wenn es den Leuten um uns herum besser geht, so geht es auch uns besser.


Zitate über Zinsverbot und Schuldenerlass

  • “Wenn jemand aus deinem Volk seinen Besitz verliert und verarmt, musst du ihn genauso unterstützen wie einen Fremden oder einen Gast, der nur vorübergehend bei euch wohnt. Tu alles, was nötig ist, damit er weiterhin bei euch leben kann. Verlange keine Zinsen und keinen Aufpreis! Hab Ehrfurcht vor mir, deinem Gott, und hilf dem Verarmten in deiner Nachbarschaft! Leih ihm zinslos Geld und Nahrungsmittel!” (3. Mose 25, 35-37)
  • “Am Ende jedes siebten Jahres sollt ihr einander eure Schulden erlassen. Wenn ihr jemandem aus eurem Volk etwas geliehen habt, dann fordert es nicht mehr zurück und zwingt eure Schuldner nicht zur Rückzahlung! Denn zur Ehre des HERRN wurde das Jahr des Schuldenerlasses bestimmt. Nur wenn Ausländer euch etwas schulden, dürft ihr es zurückverlangen. Euren Landsleuten aber sollt ihr alles erlassen, damit keiner von euch verarmt. Der HERR, euer Gott, will euch in dem Land, das er euch für immer gibt, reich beschenken.” (5. Mose 15, 1-2)
  • “Wenn der Bittsteller mit dem geliehenen Geld heimkehrt, ist er anfangs ausser sich vor Freude. Doch schmilzt das Geld rasch dahin, die Zinsen schwellen an, und sein Besitz wird verkauft. Poetisch schildert Basilius die Notlage des Schuldners: Es ist, als hätte er sich die Zeit selbst zur Feindin gemat. Tag und Nacht verschwören sich gegen ihn, denn sie sind die Eltern der Zinsen.” (David Graeber, Schulden: die ersten 5'000 Jahre, 2012, S. 362).
  • “Der Wucher galt vor allem als unvereinbar mit der christlichen Nächstenliebe, mit der Aufforderung Jesu, die Christen sollten die Armen so behandeln, wie sie Christus selbst behandeln würden; sie sollten geben, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, und dem Schuldner die Entscheidung über die Belohnung des Kreditgebers überlassen.” (David Graeber, Schulden: die ersten 5'000 Jahre, 2012, S. 360).

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