Schule in einer VUCA-Welt

Es tut sich was in der Welt um uns herum: Globalisierung, Digitalisierung, New Work, Individualisierung und demografischer Wandel. Dies sind nur ein paar der Begriffe, die aktuell als «Mega-Trends» herumfliegen. Manche davon spüren wir direkt, andere etwas weniger oder wir erwarten den Effekt erst in der Zukunft.

Was tun die Schulen in dieser Zeit, damit sie relevant bleiben und damit das, was in ihnen trainiert wird, zur heutigen und zukünftigen Welt passt?

Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf Berufsschulen, Gymnasien und weiterführende Schulen. Dies ist der Bildungsbereich, in dem ich mich seit über zehn Jahren als Lehrer, Projektleiter und Berater bewege. Viele Aussagen dürften aber auch auf Volksschulen zutreffen.

VUCA-Welt: volatil, ungewiss, komplex und mehrdeutig

Während den letzten Jahrhunderten haben wir uns antrainiert, in mechanistischen Strukturen zu denken. Seither stellen wir uns alles Mögliche – bewusst oder unbewusst – als Maschine vor. Wenn zum Beispiel in einem Unternehmen etwas nicht wunschgemäss funktioniert, dann muss halt irgendwo an einer Schraube gedreht oder an einem Hebel gezogen werden. Prozesse werden optimiert. Die Arbeit wird in überschaubare Stücke getrennt und auf Abteilungen verteilt, in denen die Menschen als Produktionsfaktoren (Human Resources) möglichst reibungslos produzieren sollen. Auch den Menschen gehen wir an, als wäre er eine Sammlung von Zahnrädchen. Wenn wir ihn nur etwas besser verstehen und am richtigen Rädchen drehen, dann werden wir in der Lage sein, mit höherer Effizienz mehr Gesundheit und Glück produziert zu können.

Man merkt an unserer Sprache, wie stark wir von dieser Sicht geprägt sind. Die Schulen folgen in der Struktur diesem Bild von Unternehmen und Menschen und bilden uns damit aus für ein Leben in einer mechanistischen Welt. Mit diesem Weltbild sind wir weit gekommen und verdanken ihm viel Fortschritt und Wohlstand. Das mechanistische Weltbild gilt allerdings in den Wissenschaften schon seit mehr als hundert Jahren als überholt. Und es wird immer deutlicher, dass wir genau damit in der heutigen Zeit an vielfältige Grenzen stossen.

Die mechanistischen Werkzeuge funktionieren nur so lange, wie die Dinge in einem gewissen Mass überschaubar und vorhersehbar sind. Wenn sie durch die Globalisierung und Digitalisierung stärker ineinander verwoben sind, dann gelangen wir in eine viel komplexere und dynamischere Welt. Die heutigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen werden oft als VUCA-Welt beschrieben. Dieses Akronym steht für «volatility» (Unbeständigkeit), «uncertainty» (Ungewissheit), «complexity» (Komplexität) und «ambiguity» (Mehrdeutigkeit).

In einer VUCA-Welt funktionieren die mechanistischen Rezepte und Denkmuster aus den letzten Jahrhunderten immer schlechter. Die dynamische und komplexe Welt ist eine Herausforderung für jede Person, die in der heutigen Zeit lebt. Wir sind gefordert, liebgewonnene Sicherheiten aufzugeben (sie bieten auch keine wirkliche Sicherheit mehr). Ich bin aber überzeugt, dass gerade inmitten von Ungewissheit und Dynamik neue Sicherheiten auf uns warten. Mit Veränderungen in hoher Dynamik umzugehen ist nicht nur für uns als Individuen eine Herausforderung, sondern ganz besonders auch für die Schulen.

Marina Weisband, eine engagierte deutsche Bildungspolitikerin, sagte kürzlich in einem Interview:

«Was Kinder lernen müssten, ist, sich auf Dinge vorzubereiten, die es noch gar nicht gibt. Wir sollten sie zum Beispiel auf Berufe vorbereiten, die heute noch gar nicht existieren. Wir müssen Kompetenzen schulen wie Kommunikation, Zusammenarbeit, kritisches Denken, Persönlichkeitsentwicklung und Selbstwirksamkeit: Ich kann Dinge ändern, wenn ich das will. Das ist das Allerwichtigste. Schule testet heute zu viel. Das System ist sehr, sehr stark auf Selektion ausgelegt. Ich kann nicht von Schülern im heutigen Schulsystem erwarten, dass sie ihr gestalterisches Potenzial für diese Gesellschaft verinnerlicht haben, weil sie in ihrem schulischen Umfeld so wenig gestalten können.»

Aktueller Umgang mit Veränderung

Wie gehen Schulen heute mit Veränderungen um? Vereinfacht sieht der Prozess in etwa so aus: Bildungspolitiker/innen und Experten-Gremien nehmen Impulse aus der Wirtschaft und Gesellschaft auf. Sie versuchen zu erfassen, welches Wissen oder welche Kompetenzen in fünf oder zehn Jahren wichtig sein könnten, und verarbeiten sie – etwa zu Empfehlungen oder Reformen (ein Prozess, der bereits mehrere Jahre dauern kann). Diese gelangen dann an die Schulleitungen und werden dort als Vorgaben an die Lehrpersonen weitergegeben. Die Lehrpersonen übernehmen die geforderten Änderungen – mehr oder weniger – für ihren Unterricht. Und dann hofft man, dass es einerseits auf die Lernenden überspringt und andererseits tatsächlich dem entspricht, was in der zukünftigen Welt nützlich und gefragt sein wird.

Veränderungsprozess im Bildungssystem: Impulse werden von Bildungspolitiker/innen aufgenommen und über Schulleitungen und Lehrpersonen zu den Lernenden weitergegeben. (Grafik: Marco Jakob)
Veränderungsprozess im Bildungssystem: Impulse werden von Bildungspolitiker/innen aufgenommen und über Schulleitungen und Lehrpersonen zu den Lernenden weitergegeben. (Grafik: Marco Jakob)

Auch wenn der Mechanismus hier vereinfacht dargestellt ist, ist offensichtlich, dass es ein langer und langsamer Prozess ist und dass es dauert, bis Veränderungsimpulse aufgenommen und schliesslich durch die ganze Kette bis zu den Lernenden weitergereicht werden. Noch länger dauert es indes, bis man im System merkt, ob eine Vorgabe im äussersten Kreis (also bei den Lernenden) überhaupt funktioniert – denn das Feedback muss ja auch wieder die ganze Kette zurückwandern.

Veränderungen in der VUCA-Welt

In einer stabilen, beständigen, einfachen und eindeutigen Welt (also in einer Anti-VUCA-Welt) treten Veränderungsimpulse relativ selten auf. In einer solchen Welt ist der oben abgebildete Prozess ein durchaus sinnvoller Weg, um diese Impulse aufzunehmen und zu verarbeiten.

In einer VUCA-Welt aber treten neue Impulse ständig auf. Das stellt Schulen, welche auf Beständigkeit ausgerichtet sind, vor grosse Schwierigkeiten. Die Impulse aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft sind so zahlreich, unbeständig, komplex und auch noch schwierig zu interpretieren, dass das Schulsystem nicht sinnvoll damit umgehen kann.

Schulen sind nicht alleine mit dieser Herausforderung. Viele Unternehmen sind heute in einem dynamischen Markt (oder eben in der VUCA-Welt) tätig und so sind auch sie daran, sich neu zu organisieren. Da Unternehmen in der Regel den Veränderungsdruck früher spüren als die meisten Schulen, haben einige Unternehmen schon vor Jahren neue Mechanismen entwickelt.

Ein Blick in die Wirtschaft: Steuerung von aussen nach innen

Schauen wir uns also an, wie Unternehmen mit den Herausforderungen der VUCA-Welt umgehen und was wir daraus für die Schule ableiten können.

Unternehmen in einem dynamischen Umfeld haben erkannt, dass es nicht reicht, wenn die Chefetage ihre Fühler ausstreckt und versucht, Veränderungsimpulse des Marktes einzufangen und zu verarbeiten. Oft sind die Chefs sogar diejenigen, welche am weitesten entfernt sind vom Markt. Sie sind durch zahlreiche Meetings im Zentrum isoliert, haben dadurch wenig Kontakt mit der Aussenwelt und befinden sich meist durch ihre Position ganz generell in einer anderen Lebenswelt als ihre Kunden.

Wenn man die Grafik unten betrachtet, wird offensichtlich, dass der äusserste Kreis am nächsten bei den Kunden dran ist. Auch sind es viel mehr Personen als im Zentrum, die mit ihren Sensoren früh feinste Veränderungen am Markt wahrnehmen können.

Unternehmen, die sich an einem dynamischen Markt orientieren, nutzen die Sensoren des äussersten Kreises, um Veränderungsprozesse zu initiieren. (Grafik: Marco Jakob)
Unternehmen, die sich an einem dynamischen Markt orientieren, nutzen die Sensoren des äussersten Kreises, um Veränderungsprozesse zu initiieren. (Grafik: Marco Jakob)

Was heisst das für die Organisation dieser Unternehmen? Wer sich konsequent nach aussen orientiert, respektive diesen Sensoren viel Gewicht gibt, kommt nicht darum herum, den äusseren Kreisen auch einen genügend grossen Handlungsspielraum zuzugestehen, damit diese die nötigen Änderungen direkt umsetzen können. Wenn dieser Spielraum nicht vorhanden ist und ein äusserer Kreis nicht selbst Anpassungen vornehmen kann, wird lediglich das Signal der Sensoren ins Zentrum geleitet. Bei den inneren Kreisen führt das Bearbeiten all dieser Impulse unweigerlich zu einer Überlastung, was schliesslich dazu führt, dass sich die Organisation selbst blockiert. Es ist somit wichtig, dass nicht nur die Verantwortung (für das Aufnehmen der Sensor-Informationen), sondern auch die Kompetenz (also die Verarbeitung der Informationen und damit auch die Befugnis, Massnahmen zu treffen) bei den äusseren Kreisen liegt.

Von aussen nach innen – auch für die Schule?

Auch in Berufsschulen, in Gymnasien und an weiterführenden Schulen hat der äusserste Kreis die grösste Berührungsfläche zur Aussenwelt: Die Lernenden sind Teil der digitalisierten Gesellschaft. Und wenn sie in einer dualen Berufsbildung sind, dann stehen sie durch den Lehrbetrieb in unmittelbarem Kontakt zur Wirtschaftswelt. Auch die Lehrpersonen können durch ihre Nähe zu den Lernenden und dadurch, dass sie recht zahlreich sind, vielfältige Bewegungen in der Wirtschaft und Gesellschaft wahrnehmen.

Schulen, die sich an einer VUCA-Welt orientieren, haben ihre Sensoren nach aussen gerichtet. Veränderungen werden dezentral umgesetzt. (Grafik: Marco Jakob)
Schulen, die sich an einer VUCA-Welt orientieren, haben ihre Sensoren nach aussen gerichtet. Veränderungen werden dezentral umgesetzt. (Grafik: Marco Jakob)

Schulen, welche ihre Sensoren nach aussen in die VUCA-Welt richten, können viele Impulse aufnehmen. Damit diese nicht im System Schule verhallen, müssen die Lernenden und Lehrpersonen so gestärkt werden, dass sie sich «zuständig» fühlen und einen möglichst grossen Handlungsspielraum haben. Das wird die Kunst neuer Schulorganisationsformen sein.

Wenn es gelingt, kommt eine ganz neue Dynamik in die Schule. Die Impulse von aussen werden verarbeitet und führen zu kreativem und selbständigem Handeln. Die äusseren Kreise erleben Selbstwirksamkeit, werden aktiv und fühlen sich zuständig – für ihren Lernprozess wie auch für ihre Schule. Und damit trainieren sie genau die Kompetenzen, die heute in aller Munde sind.

Nur, wie lässt sich das umsetzen?

In den letzten Jahren habe ich in meiner selbständigen Tätigkeit einige Unternehmen und Schulen erleben (und begleiten) dürfen, die neue Wege erfolgreich (und zum Teil auch weniger erfolgreich) in der VUCA-Welt gegangen sind. Ich würde mich sehr freuen über einen Austausch, wie solche Wege aussehen könnten und welche Erfahrungen ihr bereits gemacht habt mit Schulen in der VUCA-Welt.


Herzlichen Dank an Isabel und Simona für die Hilfe beim Formulieren und Strukturieren der Gedanken.