Schule braucht Gesellschaft

In diesem Jahr gibt es Maturanden, die wegen Corona ohne Prüfungen ihren Abschluss erhalten. Schon sehen sich Bildungsexperten veranlasst, die Abschlussprüfungen zu verteidigen.

Franz Eberle, emeritierter Professor der Uni Zürich, schreibt in der NZZ, dass man die Maturaprüfungen zwar weiterentwickeln müsse, aber dass eine Abschaffung «ein fataler Fehlentscheid» wäre.

Er zitiert den schönen Artikel über das Bildungsziel im Reglement der Maturitätsschulen (es lohnt sich, mal den ganzen Artikel 5 zu lesen - ist wirklich schön).

Die Schülerinnen und Schüler gelangen zu jener persönlichen Reife, die Voraussetzung für ein Hochschulstudium ist und die sie auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft vorbereitet.

Eberle argumentiert, dass die Abschlussprüfungen eine wichtige Funktion hätten. Er schreibt:

Ich schätze deshalb die Phase der Maturaprüfungen als wichtige letzte Lernphase im Erwerb der Maturareife ein, insbesondere im Hinblick auf die Vorbereitung auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft, den Erwerb der vertieften Gesellschaftsreife.

Gesellschaft simulieren

Was genau diese «vertiefte Gesellschaftsreife» bedeuten soll, da scheint es noch Klärungsbedarf zu geben (fand jedenfalls der Lehrerverband im Bericht zur Weiterentwicklung der Matur). Ich bezweifle allerdings, dass es gelingen wird, eine Definition zu finden, die die Schule, wie wir sie heute kennen, erfüllen könnte.

In der Schule wird Gesellschaft vor allem simuliert. Die Lehrpersonen sind die Schauspieler, welche vorzeigen, wie Gesellschaft geht. Und sie sind Geschichtenerzähler, die erzählen, wie das Leben da draussen ist.

Das kann sogar funktionieren. Doch es geht nur so lange, wie die Welt überschaubar und vorhersehbar ist. Das war sie im Industriezeitalter, als unser Schulsystem entstand. Doch in einer dynamischen und komplexen Welt stösst dieses System an seine Grenzen (siehe Schule in einer VUCA-Welt).

Die Aufgabe für Lehrpersonen wird dann eigentlich unmöglich: Sie müssen in einem Schulzimmer genügend komplexe Übungsanlagen schaffen, damit das Lernen für die heutige Welt relevant ist. Gleichzeitig bewegt sich alles um die Schule herum schneller als je zuvor, so dass die Übungsanlagen schon bald veraltet sind. Die Lehrpersonen müssten also ständig raus aus der Schule, um nachzusehen, was sich verändert hat. Als wäre das nicht schon schwer genug, müssen sie noch zu allen Schüler*innen eine genügend gute Beziehung aufbauen, damit sich der Lernerfolg einstellen kann.

Eine Schule, die das versucht, wird scheitern. Kein Wunder, findet man nicht mehr genug Personen, die in dieses Spannungsfeld zwischen Schule und Gesellschaft stehen möchten.

Raus in die Gesellschaft

Ich finde, wir suchen die Lösung am falschen Ort.

Gesellschaftsreife erlangt man nicht in der Schule, sondern in der Gesellschaft.

Das Problem ist nicht, dass wir zu wenig Lehrpersonen hätten. Wir brauchen nicht mehr Schauspieler, Geschichtenerzähler und Beziehungsknüpfer, die in einer künstlichen Umgebung die Welt nachbauen. Wir sollten endlich raus aus dem Schulzimmer und hinein in die Gesellschaft.

Wir müssen die Tore der Schule weit öffnen, damit das Lernen raus und die Gesellschaft rein kann.

In der Gesellschaft draussen zu lernen heisst, dass Komplexität und Dynamik nicht simuliert werden müssen. Sie sind einfach da. Die Gesellschaft selbst ist auch immer aktuell. Und wenn nicht nur die Lehrpersonen für Beziehungen zuständig sind, sondern alle Erwachsenen, dann haben wir auch keinen Personalmangel mehr.

Eine neue Schule

Wie eine Schule mit offenen Toren aussieht, die von der Gesellschaft durchdrungen wird und die raus geht, um die ganze Gesellschaft für das Lernen zu begeistern, können wir uns heute wohl noch kaum vorstellen. Wir können uns aber gemeinsam auf den Weg machen, neugierig und mit viel Spass am ausprobieren und lernen. Am besten bauen wir die nächste Schule zusammen mit den Kindern und mit den Grosseltern. Und dann immer wieder neu.