Plattform-Kapitalismus – Risiken und Nebenwirkungen

Das letzte Jahrzehnt war die Blütezeit des Plattform-Kapitalismus. Airbnb, Booking.com und Uber sind prominente Beispiele für ein paar Grosse der Szene. Zuerst sprach man von “Sharing Economy” – die romantische Vorstellung vom Teilen freier Ressourcen. Doch bald merkte man, dass dies mit der ursprünglichen Bedeutung von “Teilen” wenig gemein hatte. Ich nenne es deshalb lieber Plattform-Kapitalismus.

Ernüchterung

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass Plattformen eine Dezentralisierung bewirken: Ein Zimmer reicht und man kann über eine Plattform zum Hotelbetrieb werden. So können plötzlich ganz viele kleine Anbieter in den Markt eintreten. Je grösser jedoch die Plattform wird, desto grösser wird die Abhängigkeit. Es führt zu zentraler Machtkonzentration. Bald ist es vorbei mit Dezentralisierung und Demokratisierung. Ist eine Plattform einmal an der Macht, so erhöht sie meistens die Gebühren bis an die Schmerzgrenze, bei der die Anbieter gerade noch knapp überleben.

Wie die Mechanismen mit einer Plattform als Zwischenhändlerin funktioniert, zeige ich Beispielhaft anhand von Coworking Spaces. Es tönt dramatisch, entspricht jedoch dem Muster, wie es sich bei erfolgreichen Plattformen häufig abspielt.

Zum Schluss versuche ich, Lösungen zu skizzieren, wie der unerwünschte Mechanismus durchbrochen werden kann.

Beispiel: Plattformen für Coworking Spaces

Seit bald zehn Jahren bin ich aktiv im Aufbau von Coworking Spaces. Die Vielfalt der Coworking Spaces ist gross und die Szene untereinander sehr wohlwollend. So kommen in diesem Markt selten Konkurrenzgefühle hoch.

Auf der anderen Seite steht eine grosse Menge potenzieller Kunden – nämlich alle, die mit Laptop (oder auch mit Pinsel und Leinwand) ortsunabhängig arbeiten können.

💡 Nun kommen regelmässig Leute auf die Idee, dass man den Coworking-Markt durch eine Online-Plattform “verbessern” könnte. Sie treffen meist folgende Annahmen:

  1. Coworker*innen wissen nicht, wo es in ihrer Nähe einen Coworking Space gibt. Durch eine Plattform wird ihnen die Suche erleichtert.
  2. Geschäftskunden möchten für ihre Mitarbeitenden Coworking Spaces anbieten, können aber nicht mit jedem Space direkt verhandeln. Eine Plattform soll die Abrechnung vereinheitlichen.

Ob dies tatsächlich echte Probleme oder Bedürfnisse sind, ist fraglich, aber es kann sein, dass es so ist. Nehmen wir für unser Beispiel an, dass es diese Probleme gibt und dass eine Plattform durch die Vermittlung die Nachfrage nach Coworking steigern kann.

Was passiert nun?

Phase 1: Plattform tritt in den Markt ein

Bevor die Plattform auf den Markt kommt, haben Anbieter (Coworking Spaces) direkten Kontakt zu ihren Kunden (Coworker*innen) und können ihre Preise unter sich frei aushandeln.

Die euphorischen Plattform-Initiatoren gehen auf die Anbieter zu und werben damit, dass sie ganz einfach über die Plattform zusätzliche Kunden erhalten könnten. Sonst bleibt alles wie bisher – versprochen 🤞. Die Anbieter finden das grossartig. Sie können sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren und müssen sich nicht um die Vermarktung kümmern. Und wer sagt schon nein zu ein paar zusätzlichen Kunden.

Phase 1: Plattform startet und etabliert sich im Markt (ganze Grafik siehe Fusszeile).
Phase 1: Plattform startet und etabliert sich im Markt (ganze Grafik siehe Fusszeile).

😁 Alles läuft gut. Die Anbieter sind glücklich über die zusätzlichen Kunden und die Kunden sind glücklich über die bequeme Buchungsmöglichkeit auf der Plattform. Die Plattform verrechnet anfänglich tiefe Gebühren (ob sie diese den Anbietern oder den Kunden verrechnet, spielt übrigens keine Rolle - siehe Kasten unten). Die Plattform verdient im Moment noch wenig. Sie weiss, dass sie mit Skalierung und etwas Geduld später schon auf ihre Kosten kommt. Also zum Start eine Win-Win-Win Situation.

Am Horizont erscheinen jedoch die ersten dunklen Wolken:

🤨 Bisher waren die Coworking Spaces frei in der Preisgestaltung. Sie konnten ihre Angebote genau auf die lokale Begebenheit und das Bedürfnis ihrer Kunden zuschneiden. Die Plattform kann diese Vielfalt nicht abbilden und verlangt nach Vereinheitlichung.

🙄 Plötzlich stehen auf der Plattform die Coworking Spaces aus der Region nebeneinander. Die Kunden sehen, dass es in der Nachbarschaft einen Coworking Space gibt, der deutlich günstiger ist als der Space, den sie bisher besuchen. Sie fragen sich, ob sie nicht besser dort hinwechseln sollten. Durch die Vergleichbarkeit gibt es mehr Konkurrenz unter Coworking Spaces. Hoppla, damit hatte niemand gerechnet.

Phase 2: Plattform wächst und nutzt ihre Macht

Wenn die Plattform klein und in einer Nische bleibt, ist dies meist ein Verlustgeschäft für sie. Die Plattform-Initiatoren werden also (gezwungenermassen) eine marktbeherrschende Stellung suchen.

Gelingt es der Plattform zu wachsen, gibt es folgende Effekte:

😒 Je grösser die Plattform wird, desto höher wird der Anteil der Kunden, die über die Plattform buchen. Die Anbieter haben immer weniger direkten Kontakt zu ihren Kunden und werden abhängig von der Plattform.

😵 Immer mehr Aufgaben werden an die Plattform ausgelagert. Mit der Zeit verlieren die Anbieter ihre Gestaltungsmöglichkeiten und Kompetenzen in Bereichen wie Vermarktung, Vertrieb, Angebots- und Preisgestaltung. Manchmal läuft die ganze Kommunikation über die Plattform und ein direkter Kontakt zu den Kunden wird immer schwieriger.

😔 Ab hier gibt es kein Zurück mehr: Die Plattform beherrscht den Markt. Ohne auf der Plattform zu erscheinen, würde ein Anbieter einen Grossteil seiner Kundschaft verlieren. Also bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich der Plattform zu unterwerfen.

Phase 2: Plattform wächst und nutzt ihre Macht zur Gewinnmaximierung (ganze Grafik siehe Fusszeile).
Phase 2: Plattform wächst und nutzt ihre Macht zur Gewinnmaximierung (ganze Grafik siehe Fusszeile).

🤑 Nun ist die Plattform in einer mächtigen Lage und erhöht die Gebühren. Endlich können die Plattform-Betreiber Gewinne erwirtschaften. Die Anbieter sind gezwungen, einen immer grösseren Teil ihrer Marge abzugeben an den Zwischenhandel durch die Plattform.

🤷 Doch warum sollten die Plattform-Initiatoren dies tun? Sie sind doch nette Menschen. Vielleicht hat man tatsächlich Glück und sie suchen das langfristig Gute für die Coworking-Szene und widerstehen der Möglichkeit, ihren eigenen Profit zu maximieren. Leider ist dies eher die Ausnahme. Und wenn die Plattform-Initiatoren nicht auf Profitmaximierung aus sind, dann sind es die Investoren, die die Plattform-Initiatoren unter Druck setzen. Willkommen in der Welt des Plattform-Kapitalismus.

😰💸 Bald winkt auch schon die Verlockung eines Exits. Die Initiatoren oder Investoren verkaufen ihre Anteile. Mit dem Verkauf der Plattform gelangen alle Daten und die mächtige Position über die Coworking-Anbieter in fremde Hände. Die Käufer investieren selten aus Wohltätigkeit und werden versuchen, in den folgenden Jahren möglichst viel Profit zu generieren. Das bedeutet meist nichts Gutes für Anbieter und Kunden.

Ein unwahrscheinliches Szenario?

Ja, es ist unwahrscheinlich, dass das oben beschriebene Szenario eintrifft. Der Grund ist aber nicht, weil es nicht realistisch wäre (mit den Stichworten “Platform Capitalism, Platform Cooperativism” findet man etliche wissenschaftliche Papers dazu). Das Szenario trifft deshalb selten ein, weil die meisten Plattform-Versuche scheitern.

Ein Scheitern ist kaum im Sinn der Initiatoren einer Plattform. Aber wenn sogar der Erfolgsfall für viele Marktteilnehmer grosse Risiken und Nebenwirkungen mit sich bringt, dann ist es vielleicht angebracht, nach Alternativen zu suchen.

Auswege aus der Plattform-Misere

Die Situation ist nicht hoffnungslos. Es gibt einige Möglichkeiten, den Plattform-Kapitalismus zu zähmen.

1. Keine Plattform

Die einfachste Lösung ist, auf eine Plattform zu verzichten. Das bedeutet, man bleibt bei den direkten Beziehungen zwischen Anbietern und Kunden. Die Kunden finden mit Hilfe von Suchmaschinen, Social Media oder durch Bekannte die Angebote in ihrer Umgebung. Die meisten Anbieter haben bereits informative Internetauftritte, die leicht gefunden werden können.

Falls eine Branchenlösung sinnvoll erscheint, um für Kunden besser auffindbar zu werden, so kann dies recht einfach durch eine Übersichts-Webseite eines gemeinsamen Verbandes erreicht werden. Von dort werden die Kunden zu den einzelnen Anbietern weitergeleitet.

2. Eigene Währung

Um beim Beispiel von Coworking zu bleiben: Für grössere Geschäftskunden hat man ohne Plattform keine einheitliche Lösung, damit Arbeitnehmende flexibel in Coworking Spaces arbeiten können.

Eine kreative Lösung wäre, eine eigene Währung einzuführen. Ähnlich wie REKA-Checks könnte man Coworking-Checks herausgeben. Firmen kaufen die Coworking-Checks ein und verteilen diese an ihre Mitarbeitenden. Die Währung wird von den Coworking-Anbietern akzeptiert und kann für die Nutzung der Coworking Spaces verwendet werden.

Damit hätten Geschäftskunden eine einfache Möglichkeit für die Abrechnung. Die Mitarbeitenden haben eine hohe Flexibilität, ihren Arbeitsplatz zu wählen und diesen mit Coworking-Checks zu bezahlen. Gleichzeitig behalten Coworking-Anbieter die komplette Freiheit über die Preis- und Angebotsgestaltung.

3. Plattform-Kooperation

Die Plattform allein ist eigentlich nicht das Problem. Es ist die Eigentums- und Entscheidungsstruktur in der Plattform-Organisation.

Eine Lösung dafür wäre, die Macht über die Plattform nicht den Shareholdern (Kapitalgeber) zu überlassen, sondern den Stakeholdern (Anbieter, Mitarbeitende, Kunden) zu übertragen. Das ist die Idee hinter dem Begriff Platform Cooperative. Es gibt bereits einige Beispiele, wie z.B. Fairbnb, CoopCycle, Fairmondo oder Netzwerke wie Platform Coops.

Im Coworking-Beispiel: Eine Plattform – auch wenn sie eine marktbeherrschende Stellung hat – ist dann unproblematisch, wenn die Coworking-Anbieter selbst in der Lage sind, die Plattform zu kontrollieren.

Das heisst übrigens nicht, dass die Plattform-Inititatoren auf ihren monetären Anreiz verzichten müssen. Sie können durchaus eine Plattform betreiben und dabei Geld verdienen. Sie können allerdings nicht auf einen fulminanten Exit hoffen. Weil sich nun jedoch die Branche hinter die Plattform stellt, erhöhen sich die Chancen auf Erfolg und damit auch die Aussicht der Initiatoren auf eine gute, aber immer noch vernünftige Vergütung.

Wie eine solche Struktur aussehen könnte, dafür gibt es spannende Ansätze rund um die Bewegung über Verantwortungseigentum in Deutschland. Aktuell sind wir daran, dafür eine möglichst einfache Organisationsform mit bestehenden Rechtsformen in der Schweiz abzubilden (bei Interesse gerne bei mir melden).

Fazit

Plattformen sind ein spannendes Phänomen. Sie bieten für manche Märkte attraktive Vorteile, aber auch viele Risiken und unangenehme Nebenwirkungen. Die schädlichen Nebenwirkungen sind nicht unbedingt von den Plattform-Initiatoren gewollt. Sie sind vielmehr die Folge ungeeigneten Kapitalstrukturen der Plattform-Organisationen.

Eine Plattform steht zwischen den Anbietern und ihren Kunden. Als Zwischenhändlerin wird sie für ihre Dienstleistung eine Gebühr verlangen. Ob die Gebühr den Anbietern oder den Kunden verrechnet wird, spielt keine Rolle. Warum, sieht man an folgendem Beispiel:

Variante 1: Keine Plattform
  • Preis von Produkt oder Dienstleistung: CHF 100
  • Kunden bezahlen: CHF 100
  • Anbieter erhalten: CHF 100
Variante 2: Plattform verrechnet Anbietern eine Gebühr
  • Preis von Produkt oder Dienstleistung: CHF 100
  • Plattform-Gebühr als Abzug bei Anbietern: CHF 20
  • Kunden bezahlen: CHF 100
  • Anbieter erhalten: CHF 80
Variante 3: Plattform verrechnet Kunden eine Gebühr
  • Preis von Produkt oder Dienstleistung: CHF 100
  • Plattform-Gebühr als Aufschlag bei Kunden: CHF 20
  • Kunden bezahlen: CHF 120
  • Anbieter bezahlen: CHF 100

Interpretation

Bei Variante 3 sieht es zuerst so aus, als wäre es eine gute Situation für die Anbieter, erhalten sie doch auch mit der Plattform den vollen Preis von CHF 100. Doch dies stimmt nicht. Für ihre Kunden wird es wegen der Plattform-Gebühr teurer, was dazu führt, dass weniger Kunden bereit sind, den Preis zu bezahlen. Also wird der Anbieter den Preis mit der Zeit senken, bis das neue Optimum erreicht ist.

Auch wenn Kunden nicht oder nur wenig auf den höheren Preis reagieren (niedrige Preiselastizität der Nachfrage), so entgeht den Anbietern trotzdem etwas. Denn in diesem Fall könnten die Anbieter ohne die Plattform den Preis auf CHF 120 erhöhen und hätten dadurch höhere Einnahmen.

Ob Anbieter oder Kunden die Last der Gebühren tragen ist also abhängig davon, wie sensibel diese auf Preiserhöhungen reagieren und nicht, wem die Gebühr verrechnet wird.

Tipp: Frage einen BWLer deines Vertrauens nach dem Zusammenhang von “Preiselastizität” und “Wer trägt die Last von Transaktionsgebühren?”.

Man kann es drehen, wie man will: Eine Plattform als Zwischenhändlerin nimmt aus den Transaktionen einen Anteil heraus, der an einer anderen Stelle fehlt.