Colearning - welche Rolle spielt der Lehrplan?

Wir werden beim Colearning immer wieder gefragt, wie es denn mit dem Lehrplan aussieht. Ja, unsere Colearner sind im Oberstufenalter und somit gilt auch für sie der Lehrplan21.

Wir wollen durch das Colearning den Jugendlichen ein Umfeld schaffen, in welchem sie so viele Kompetenzen wie möglich aus dem Lehrplan erreichen können. Wir sind aber keine Schule, sondern ein Lernort. Wir gestalten keinen Unterricht. Unsere Pädagogik baut auf Selbstorganisation und Selbstverantwortung der Lernenden. Alle Eltern haben vom Kanton Bern eine Bewilligung zum Privatunterricht (Homeschooling) beantragt. Die Verantwortung für die Erfüllung der Lernpflicht liegt also bei den Eltern. Wir verstehen uns als Prozesspartner und unterstützen die Eltern mit dem Colearning-Angebot.

Lehrplan21 des Kanton Bern
Lehrplan21 des Kanton Bern

Wenn man die Übersicht des Lehrplan21 ansieht, so gibt es einige Kompetenzbereiche, mit denen die Jugendlichen im Colearning-Umfeld auf natürliche Weise konfrontiert werden. Zuerst gehe ich ein auf den offensichtlicheren, überfachlichen Bereich. Dann auch auf die sogenannten “Kernfächer”.

Medien und Informatik

Seit der ersten Woche nutzen wir die digitalen Möglichkeiten. Wir haben ein gemeinsames Datei-Ablagesystem, um das Colearning und die Projekte zu organisieren. Dann nutzen wir Slack zur Kommunikation. Die Technik rückt mit der Zeit recht unspektakulär in den Hintergrund. Dafür brauchen die Kommunikationskompetenzen deutlich mehr Aufmerksamkeit. Die Jugendlichen nehmen mit den Experten im Coworking Kontakt auf über digitale Kanäle und koordinieren sich.

Etliche Jugendliche interessieren sich ausserdem für Programmierung und Game Design. Diese sind daran, sich in spezifische Technologien zu vertiefen.

Berufliche Orientierung

Der Bereich “Berufliche Orientierung” ist ein wichtiger Grund, warum wir das Colearning überhaupt gestartet haben. Ich frage mich, wie sich in einem Schulzimmer ein Bildungs- und Berufswunsch überhaupt entwickeln kann. Die neueren Berufe sind heute so weit von der Erfahrungswelt der Jugendlichen (und oft auch ihrer Eltern) entfernt. Im Effinger können sie in duzende Berufe reinschauen, die Erwachsenen bei der Arbeit beobachten und selber in diversen Bereichen Erfahrungen machen.

Bildung für Nachhaltige Entwicklung

Die Themen Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft sind im Effinger in vielfätiger Weise präsent: Zum Beispiel hatten die Jugendlichen schon Kontakt mit einer Coworkerin, welche aus Kaffeesatz-Abfall ein Kostmetik-Produkt herstellt. Auf der Terrasse läuft ein Urban Gardening Projekt nach Prinzipien der Permakultur. Auch dafür interessieren sich Colearner und haben bereits Kontakt aufgenommen mit unserem Permakultur-Experten, weil sie gerne mithelfen möchten.

Über Wirtschaft brauche ich wohl gar nicht zu schreiben bei einer Ansammlung von Selbständigen und kreativen Unternehmer*innen. Aber auch gesellschaftliche Themen und Politik sorgen immer wieder für Gesprächsstoff in Pausen und während Mittagessen. Wir haben mehrere Coworker, welche Politikberater sind und auch durch die Nähe zum Bundeshaus haben wir regelmässig Politiker von links bis rechts im Haus.

Mitbestimmung üben wir ganz konkret, indem die Jugendlichen selber Entscheide fällen für den Betrieb des Colearnings. Sie haben mit dem wöchentlichen Junior-Rat ein demokratisches Mittel, um neue Regeln zu definieren. So haben sie sich zum Beispiel bereits in der ersten Woche eine Regel auferlegt, dass Natels nur während Pausen gebraucht werden dürfen (wir als Erwachsene waren übrigens nicht in diesen Vorschlag involviert).

Überfachliche Kompetenzen: Personale, soziale und methodische Kompetenzen

Hier geht es um erfolgreiche Lebensbewältigung. Was ist dafür ein besserer Kontext als das Leben selbst?

Im Effinger treffen die Colearner auf Gleichaltrige und auf viele Erwachsene. Es ist ein Umfeld, wo gearbeitet und gelebt wird. Da gibt es ganz viele Möglichkeiten, die personalen und sozialen Kompetenzen zu üben: Selbstreflexion, Eigenständigkeit, Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Umgang mit Vielfalt, Sprachfähigkeit, Problemlösekompetenz, etc. sind einige der Stichworte im Lehrplan.

Durch die eigenständige Durchführung von Projekten sind wir im Moment mit ihnen konkret daran, methodische Kompetenzen zu trainieren, damit sie erfolgreich ihre (hoch gesteckten) Ziele erreichen.

Sprachen

Schon in den ersten zwei Wochen mussten die Colearner ihre sprachlichen Fähigkeiten vielfältig einsetzen. Der Unterschied zu den meisten Schulsituationen ist, dass sie im Colearning bei der Kommunikation echte Adressaten haben. Wenn sie also schriftlich Kontakt aufnehmen mit Coworkern, so haben sie ein eigenes Interesse, möglichst ohne Fehler zu schreiben.

Die häufigste Sprache ist natürlich Deutsch. Aber wir haben auch regelmässig Personen im Effinger, mit denen man nur auf Englisch oder Französisch kommunizieren kann. So eine Situation gab es schon diese Woche, als ein Colearner ein Gespräch mit einer Person mit Fluchthintergrund auf Englisch geführt hatte. Der Flüchtling war im Effinger für ein Coaching-Gespräch im offenen Coworking-Bereich und so nahm ein anderer Colearner sein Englisch-Buch und setzte sich daneben zum Lesen.

Das ist toll, wird aber nicht reichen, um (Fremd-)Sprachen in ausreichender Tiefe zu lernen. Ein grosser Teil davon wird sicher auch zu Hause gelernt werden müssen. Aber ich rechne mit positiven Auswirkungen auf die Motivation, wenn die Colearner konkret erleben, welche Möglichkeiten sich auftun, wenn sie in einer Fremdsprache kommunizieren können.

Wer weiss, vielleicht könnte ich jetzt Französisch, wenn ich in der Grundschule oder dem Gymnasium die Notwendigkeit dafür gesehen hätte. Die Auswirkungen meiner Schulbildung auf meine Sprachkenntnissen waren leider viel zu gering, wenn ich bedenke, dass ich 10 Jahre Sprachunterricht hatte. Zu verlieren gibt es in diesem Bereich während der Oberstufe also nicht allzu viel. Ich bin gespannt, was wir mit der Kombination von Colearning und Homeschooling erreichen werden.

Mathematik, Natur, Mensch, Gesellschaft

In den ersten zwei Wochen war Mathematik noch kein Thema. Einige Colearner möchten bald ein Projekt mit dem Schreiner anpacken. Ich vermute, dass dort Mathematik ein Thema sein wird.

Generell bin ich bei Mathematik recht entspannt. Als Berufsschullehrer erlebe ich, mit welchen Mathematik-Kenntnissen die Schüler*innen aus unserer Volksschule kommen. Ich übe mit ihnen noch während den drei Lehrjahren an einfachen Dreisatz- und Prozentrechnungen. Mir wäre es manchmal lieber, sie hätten gar keine spezifischen Math-Kenntnisse und dafür auch nicht die antrainierte Angst. Durch Projekte, die zunehmend auch mit Finanzen zu tun haben, werden Colearner auch mit Mathematik in Kontakt kommen. Ich würde behaupten, dass das, was durch das Leben nicht gelernt wird, ohne die Math-Angst in kürzester Zeit nachgeholt werden könnte.

Bei Mathematik, den kulturellen und naturwissenschaftlichen Themen rechnen wir damit, dass ein spezifischer Bildungs- oder Berufswunsch ab der 8. Klasse im Colearning eine “Zugwirkung” haben wird, so dass sie sich die Lücken zum Lehrplan viel einfacher schliessen lassen.

Gestalten

Schon in den ersten zwei Wochen kam es zu Begegnungen mit Coworkern, die in gestalterischen Berufen arbeiten. So hat Claudine als Illustratorin zwei Colearnern gezeigt, wie sie arbeitet. Nun haben sie eigene Grafik-Projekte, in die sie sich selbständig vertiefen.

Claudine zeigt ihre Arbeit als Illustratorin (Photo ist vom Effinger-Jubiläum)
Claudine zeigt ihre Arbeit als Illustratorin (Photo ist vom Effinger-Jubiläum)

Roland, Interaction Designer und Psychologe, hat diese Woche ein Angebot für die Colearner gemacht, dass sie ihn begleiten können an einen Visualisierungs-Workshop, den er für einen Kunden gibt. Das Interesse war gross. Leider hat es bei diesem Kunden dann so spontan doch nicht geklappt. Auch das gehört zum “Leben”. Roland wird aber bei der nächsten Gelegenheit wieder anfragen.

Musik und Sport

Musik war bisher noch kein grosses Thema. Es wird aber bestimmt Gelegenheiten dazu geben, da auch Coworker in diesem Bereich Interessen haben oder gar beruflich mit Musik arbeiten.

Sport findet bei manchen Colearnern ausserhalb in Sportvereinen statt. Bewegung war aber auch im Colearning in den ersten Wochen schon ein wichtiger Teil.


Erkenntnisse

Eigentlich wollte ich die wöchentlichen Blogeinträge zum Colearning kurz halten. Tja. Dieser wurde halt ziemlich lang. Ist vielleicht verständlich beim grossen Umfang des Lehrplanes… 😉

Diese Woche habe ich gelernt, dass unser Ansatz von Bildung einerseits auf grosses Interesse stösst, aber auch viel Klärungsbedarf da ist - gerade im Bezug auf den Lehrplan. Ich übe mich darin, mit Wertschätzung den konventionellen Formen der Bildung zu begegnen, während wir mit viel Freude die ungewohnten aber für heute und die Zukunft wichtigen innovativen Formen der Bildung zu entdecken.

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