Zurück in die Zukunft des Lernens

Wir leben in einer Welt hoher Dynamik: globale Märkte, künstliche Intelligenz, ständige Umbrüche. Die Strukturen der Industrialisierung stossen an ihre Grenzen. Es ist Zeit, Lernen neu aufzugleisen: als Colearning inspiriert von Jäger-Sammler-Kulturen, ausgerüstet mit digitalen Werkzeugen, mitten im Leben und mit Kindern, die wieder wichtige Aufgaben in der Gesellschaft erfüllen.

Nicht Schule verbessern, sondern Lernen befreien – raus aus der pädagogischen Sonderumwelt, hinein in gemeinsames Herstellen von Dingen für die Gesellschaft.


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Taylorismus hilft nicht mehr weiter

In der industriellen Logik funktionierte Taylorismus brilliant: Arbeitsteilung, Standardprozesse, Vorhersagbarkeit. Doch diese Logik kippt bei hoher Dynamik. Dann zählen Problemlösekompetenz, Improvisation, Gestaltung – eigentlich menschliche Fähigkeiten, die aber in einer durch das Förderband geprägten Schule wenig gefördert oder gar abtrainiert werden. Dies habe ich vor fünf Jahren in “Schule in der Taylorwanne” bereits argumentiert. Durch die Entwicklung von künstlicher Intelligenz hat die Veränderung in der Welt und insbesondere die Dynamik im Arbeitsmarkt noch weiter zugenommen.

Beiläufiges Lernen

Wenn wir nicht von der Institution her denken, sondern von menschlichem Lernen, landet wir schnell bei etwas Ur‑Vertrautem: Kinder lernen, indem sie zuschauen, mitmachen, übernehmen. Die Kulturpsychologie nennt das LOPI (Learning by Observing and Pitching‑In). Im Colearning nennen wir es beiläufiges Lernen. Es ist Lernen in altersdurchmischten Gruppen in einem ständigem Spiel. Es ist ein Mitlaufen, Ausprobieren, Scheitern, Verbessern und mit anderen die Resultate und Erträge teilen.

Was hier zählt: echte Verantwortung, Sinnkopplung (lernen, weil es gebraucht wird), altersgemischte Peers und öffentliche Wirkung (andere haben etwas davon).

Resilienz: Kinder als kulturelles Backup

Feldforschung zu Jäger‑Sammler‑Gesellschaften (z. B. Lew‑Levy et al.) zeigt: Kinder sind nicht nur Lernende, sondern Mit‑Versorger:innen und Wissensspeicher. Sie kennen Wege, Saisonzeiten, essbare Pflanzen und einfache Techniken. Sie erzielen beim Sammeln teilweise sogar Kalorien-Überschüsse, ein realer Beitrag für die Gruppe.

Das Entscheidende: Fallback‑Wissen. Wenn es eng wird, zählen robuste Basistechniken – Wurzeln, Knollen, Haltbarmachen, Reparieren, Schärfen, Bauen. Das Wissen und die Kompetenzen werden von Kindern und Jugendlichen über Generationen hinweg trainiert und dadurch erhalten. Es macht die gesamte Community resilienter. Denn falls in Krisenzeiten die Hauptversorgungsquellen der Erwachsenen versiegen, greifen solche Gemeinschaften auf die von den Kindern bewahrten Kompetenzen zurück, um zu überleben.

In unserer Gesellschaft lassen wir die Kinder und Jugendlichen selten an die echten Probleme und Aufgaben im Leben ran. Sie sind in den Schulen auf Warteposition. Was, wenn wir ihnen wieder mehr zutrauen würden? Könnten sie auch heute aktiv etwas zur Nachbarschaft beitragen und dabei alte Techniken erhalten? Vielleicht sind wir einmal froh um etwas mehr Resilienz, um Lücken zu schliessen wenn Lieferketten, Energie oder Preise verrückt spielen.

Das Ballenberg‑Prinzip: Resilienz statt Nostalgie

Der Ballenberg ist ein Freilichtmuseum in der Schweiz. Dort lebt das traditionelle Handwerk weiter: Backen im Holzofen, Käsen, Weben, Schmieden, Holzbau, Heuen, Fermentieren, Korbflechten. Stell dir vor, dies wäre nicht ein Museum, sondern Alltag in jedem Dorf oder Stadtquartier:

  • Kinder und Jugendliche produzieren echte Güter und Dienste für die Nachbarschaft: Brot, Gemüse, Reparaturen, Pflege‑Hilfen, Medienbeiträge.
  • Ältere werden wieder Meister:innen, die Wissen sichtbar weitergeben.
  • Altersgemischte Colearning‑Gruppen lösen echte Probleme: kaputte Fahrräder, überfüllte Behördenpostfächer, leere Gemeinschaftsküchen, einsame Menschen, usw.
  • Wertschöpfung wird gemeinsam: weniger Trennung, mehr Teilhabe – auch für Menschen, die in klassischen Klassenräumen kaum vorkommen.
  • Dabei wird beiläufig ganz viel gelernt und zusätzlich werden alte Kulturtechniken erhalten.

Das ist nicht Rückwärtsgang, sondern Modernisierung: alte Techniken plus digitale Werkzeuge für eine dynamische Welt.

Gesellige Orte und konviviale Werkzeuge

Ivan Illich skizzierte in Deschooling Society und Tools for Conviviality die Idee von Lernnetzen (Learning Webs) und geselligen Orten: Räume und Werkzeuge, die Menschen ermächtigen, selbstbestimmt und miteinander zu lernen.

Übertragen auf heute heisst das: Orte als Infrastruktur (Küche, Werkstatt, Garten, Pflege, Medien/Tech‑Studio, Bibliothek der Dinge) und Netze, die Menschen, Wissen und Aufträge verbinden. Technologie und insbesondere künstliche Intelligenz dient als konviviales Werkzeug – Diagnose, Feedback, Dokumentation und Übersetzung.

Konviviale Werkzeuge erweitern Handlungsspielräume – sie ersetzen nicht das Handeln.

Colearning vs. Fliessband-Modus

Der Unterschied ist kein “Didaktik‑Detail”. Es ist ein Paradigmenwechsel: von Schule als Monopol‑Format zu Lernen als öffentlicher Infrastruktur.

Colearning (beiläufiges Lernen, LOPI) Fliessband-Modus
Takt Sinnkopplung & Mastery (weiter, wenn's sitzt) Glocke & Gleichschritt
Ort Gesellige Orte: Küche, Werkstatt, Garten, Pflege, Medien/Tech Klassenzimmer als pädagogische Sonderumwelt
Rollen Kinder/Jugendliche als Co-Produzent:innen, Peer-Lotsen Lernstoff-Konsument:innen
Erwachsene Producer-Coach/Meister (modelliert, coacht, übergibt Verantwortung) Stoffsender:in, Prüfungsverwaltung
Inhalte Bedarfs- & projektgetrieben; Theorie wird bei Bedarf beigezogen Curriculum-Durchlauf, Anwendung später
Nachweise Portfolio, Badges (Artefakte + externe Reviews) Prüfungen, Noten, Zeugnisse
Technologie Konvivial: Diagnose/Feedback/Doku; KI als Assistenz Kontrolle, Taktgeber
Resilienz Individuelle Flexibilität und Backup-Kompetenzen: Haltbarmachen, Reparieren, Pflege, Naturwissen schwache Verknüpfung mit Alltagsversorgung
Sozialform Altersgemischte Peers, offener Kreis, Öffentlichkeit homogene Jahrgänge, geschlossener Raum

KI konvivial nutzen

KI nimmt Routine ab, eröffnet Diagnose‑ und Feedback‑Schleifen und macht individuelles Üben alltagstauglich. Aber: KI darf nicht zum Taktgeber werden. Sie gehört in die Rolle des Werkzeugs, nicht des Lehrmeisters.

Konvivial eingesetzt, verstärkt KI genau das, was Colearning braucht: gute Erklärungen im Moment des Bedarfs, saubere Dokumentation von Artefakten, Übersetzungen zwischen Generationen, Sprachen, Kulturkreisen und Transparenz über Lernwege.

Zurück in die Zukunft

Die lineare Schule der westlichen Welt ist eine Erfolgsgeschichte des letzten Jahrhunderts. Sie ist aber die grosse Ausnahme in der Menschheitsgeschichte. Ob sich diese Art von Schule halten kann, wissen wir nicht. Ich vermute, dass wir mit dem Paradigma aus der Industrialisierung die aktuellen Probleme der Schule nicht lösen können. Ich denke, dass wir zu einem Lernen finden müssen, das sich Jahrtausende bewährt hat und dieses in die Zukunft transformieren. Wie oben gezeigt, können wir in der vorindustriellen Zeit und in Jäger-Sammler-Kulturen Inspiration finden, die uns für heute und die Zukunft helfen könnte.

Colearning ist die knappe Formel dafür: beiläufig, sinngekoppelt, in Community wirksam. Kinder und Jugendliche werden wieder Mit‑Träger:innen von Kultur und Versorgung und wir alle Teilhaber:innen gemeinsamer Wertschöpfung.

Weg von der Schulglocke, die aus dem Leben herausläutet, hin zu gesellschaftlicher Teilhabe, die ins Leben hineinzieht.


Der Begriff “pädagogische Sonderumwelt” stammt von Aladin El-Mafaalani, Sebastian Kurtenbach, Klaus Peter Strohmeier in ihrem Buch “Kinder, Minderheiten ohne Schutz”, 2025.