Während der Corona-Krise sind plötzlich fast alle im Homeoffice gelandet. Auch Lehrer und Schüler. Wenn das Thema passt, die Schüler selbständig sind und die technische Ausstattung funktioniert, hat das zwischendurch auch ganz gut geklappt.
Doch nach dem Ausnahmezustand scheint die Erleichterung gross zu sein, dass man wieder in die Schulzimmer zurückkehren darf. Aber sind wirklich alle froh darüber? Ich denke, es lohnt sich, da mal etwas genauer hinzuschauen.
Ich habe viele Fernsehbeiträge der letzten Wochen zu Schule und Corona nochmals angeschaut. Was mir zuerst auffällt, ist, dass man ganz viel hört von Eltern, Schulleiterinnen, Lehrer und Politikerinnen. Aber selten kommen Kinder und Jugendliche selbst zu Wort.
Dann wird ständig der Unterricht zu Hause dem Unterricht im Schulzimmer gegenübergestellt. Es gibt nur ein Entweder-Oder. Da ist die Antwort klar: Unterricht zu Hause hat Nachteile gegenüber dem Unterricht an der Schule. Also so schnell wie möglich zurück zur gewohnten Situation.
Niemand scheint den Mut zu haben, auch mal die Frage zu stellen, ob auch eine Kombination denkbar wäre:
Könnten wir Schule so gestalten, dass sowohl für Lehrer wie auch für Schüler die Möglichkeit besteht, regelmässig aus dem Homeoffice zu arbeiten und zu lernen?
Zwei zusätzliche Lernorte
In vielen Branchen in der Arbeitswelt ist es längst passiert: Zum klassischen Büro ist das Homeoffice dazu gekommen. Weil es auch zu Hause nicht immer optimal ist, hat man mit Coworking Spaces einen dritten Arbeitsort eingeführt.
So etwas wäre auch denkbar für die Schule. Anstatt jeden Tag in ein Schulzimmer zu gehen, könnte man auch zwischendurch von zu Hause aus lernen. Weil das nicht in jedem Fall möglich ist oder manche dann doch lieber an Orte gehen, wo man andere trifft, könnte man Bibliotheken und andere Räume an den Schulen nutzen und zu Lernlandschaften umbauen.
Flexible und individualisierte Bildung
Seit Jahren wird von individualisierter Bildung gesprochen. Mit einer Lehrerin und 25 Schülerinnen zur gleichen Zeit im gleichen Raum sind die Möglichkeiten für individualisiertes Lernen sehr beschränkt.
Wenn man den Lernort flexibilisiert, öffnen sich ganz neue Möglichkeiten: Schüler können zu Hause lernen, wenn sie sich selber organisieren können und an etwas arbeiten, wo sie sich alleine am besten konzentrieren können. Vielleicht ist gleichzeitig auch jemand von den Eltern zu Hause oder im Homeoffice und kann zwischendurch helfen.
Chancengerechtigkeit kann man dadurch erreichen, dass die Schüler an die Schule kommen können, die zu Hause keine optimale Lernumgebung haben oder es einfach vorziehen, an die Schule zu gehen. An der Schule finden sie auch Lehrpersonen und Lernbegleiter. Entweder besuchen sie klassische Unterrichtseinheiten oder gehen in die offene Lernlandschaft. Sie suchen sich Hilfe bei anderen Schülern oder bei Lehrpersonen, die gerade vor Ort sind.
So kann das Lernen viel individueller stattfinden. Von selbständigem, selbstorganisertem Lernen bis zu sehr eng geführten Formen ist alles möglich. Die Lehrperson hat so mehr Zeit, um sich um einzelne oder kleine Gruppen zu kümmern. Denn im Gegensatz zum klassischen Schulzimmerunterricht muss sie nicht mehr die Schnellen und Selbständigen mit Aufgaben versorgen, damit diese nicht ungeduldig werden und den Unterricht stören.
Natürlich unterstützen auch die digitalen Mittel diese unterschiedlichen Formen. Neben gemeinsamen Dokumentenablagen können sich Schüler von zu Hause aus live einschalten in Unterrichtssequenzen oder sich diese im Nachhinein anschauen. Und wenn zu Hause Fragen entstehen, kann man eine Lehrperson per Video-Call um Unterstützung bitten.
Lehrer als attraktiver Beruf
In fast allen Branchen ist es längst üblich, dass man mindestens einen Teil der Woche aus dem Homeoffice arbeiten kann. Corona gab dem Homeoffice nochmals einen kräftigen Schub.
Beim Lehrerberuf ist man bisher davon ausgegangen, dass das nicht möglich ist. Wenn man aber die Lernorte für die Schüler flexibilisiert, so ist es plötzlich auch denkbar, dass eine Lehrperson regelmässig von zu Hause arbeitet. So könnten sich Lehrpersonen aufteilen, dass einige vor Ort für die Schüler da sind, während andere aus dem Homeoffice für Sprechstunden zur Verfügung stehen. Zwischendurch könnten sie auch in ein Videostudio gehen, um dort die nächsten Unterrichtssequenzen aufzuzeichnen.
Flexiblere Arbeitsformen könnten den Lehrerberuf wieder attraktiver machen und dem Lehrermangel entgegenwirken. Wenn Schule so wie oben beschrieben organisiert wird, so ist man als Lehrperson auch viel weniger als Einzelkämpfer und mehr als Team unterwegs.
In ferner Zukunft?
Das tönt nach einem grossen Umbau der Schule. Es muss aber gar nicht in einem riesigen Schritt passieren. Man könnte auch einfach mit einem Tag pro Woche anfangen, an dem die Schüler den Lernort selber wählen können. Dann hätten wir neben “Bring Your Own Device” zusätzlich ein “Choose Your Own Environment”.
In einer aktuellen Studie der Pädagogische Hochschule Zug findet man Aussagen darüber, warum Schülerinnen und Schüler “glauben, man sollte auch in Zukunft mehr online und zuhause lernen” (danke Christian Müller für diesen Post).
Wir sollten also solche Formen ernsthaft diskutieren und ausprobieren. Ich denke, dass durch die Flexibilisierung der Lernorte auch viele der Kompetenzen trainiert werden könnten, die heute in aller Munde sind (Selbständigkeit, Selbstwirksamkeit, Teamfähigkeit, Kommunikation, Kollaboration, etc.). Und nebenbei gewinnt der Lehrerberuf an Attraktivität.
Nun bin ich gespannt auf deine Meinung unten in den Kommentaren: Würdest du gerne auf diese Art lernen - als Kind, Jugendlicher oder sogar als Erwachsener? Würdest du gerne so Lehrer sein?