Jede Idee ernst nehmen

Viele haben den Zugang zu dem, was sie wirklich wollen, verloren. Und sie haben kein Gefühl, was sie in der Welt bewirken können. Das kann jedoch zurückkommen, wenn die Umgebung stimmt und unausgereifte Ideen radikal ernst genommen werden.

In dieser Serie geht es um Lernen aus intrinsischer Motivation. Wenn man von einem Schulsystem umgeben ist, das auf externem Druck und Machthierarchien basiert, braucht es kreative Hacks, damit solches Lernen gelingen kann. Achtung, manche dieser Hacks können im sozialen System Schule eine Immunreaktionen auslösen!

  1. Einführung
  2. Auf Augenhöhe
  3. Jede Idee ernst nehmen ← du bist hier
  4. Wie ich die Noten abschaffte
  5. Das Ende des Klassenzimmers
  6. IKIGAI, die Schule und das Leben (folgt)
  7. Ein anderes Bildungssystem ist ganz einfach möglich (folgt)
  8. usw.

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Wenn ich Lernenden auf Augenhöhe begegnete und wenn ich sagte, dass sie mit ihren Ideen und Wünschen gefragt sind, dann passierte vorerst einmal gar nichts. Warum? Weil sie ein Jahrzehnt von Unterricht hinter sich hatten, bei dem sie selbst nicht gefragt waren. Das Wort UNTER-RICHTEN drückt es treffend aus: sie waren unten und wurden gerichtet. Das hinterlässt Spuren.

Motivation ist ein schüchternes Tier

Die innere Motivation, etwas zu lernen ist für mich wie ein schüchternes, wildes Tier. Diese Motivation wagt sich nur dann aus dem Versteck, wenn die Umgebung sicher ist. Falls irgendetwas nicht stimmt, so verschwindet sie sofort wieder.

Ich wusste, dass ich nur eine Chance habe, wenn ich ein sicheres Umfeld schaffen kann, das sich möglichst deutlich von ihrem bisher Erlebten unterscheidet.

Vertrauen braucht Zeit. Es ist ganz schön schwierig auszuhalten, wenn wochenlang nichts passiert. Es kam mir manchmal vor, als würden sie mich einfach beobachten, um herauszufinden, ob sie dem, was ich versprach, wirklich trauen können.

Mein Versprechen war nicht wenig: Ich sagte, dass sie ihre Ideen in eigenen Projekten umsetzen dürften und ich sie dabei unterstützen würde. Die Projekte waren komplett losgelöst von irgendeiner Bewertung (siehe Wie ich die Noten abschaffte).

Die Challenge

Die Anfangsphase, in der sowieso wenig von den Lernenden kam und sie vor allem mich beobachteten, nutzten wir, um ein paar WEB-Grundlagen zu trainieren. Es ging dabei um Dinge, die sehr schnell einen praktischen Nutzen bieten, wie zum Beispiel das Erstellen von professionell aussehenden Webseiten innerhalb von nur wenigen Stunden.

Zwei Möglichkeiten: Die Welt verändern oder Kunden suchen und diese glücklich machen.
Zwei Möglichkeiten: Die Welt verändern oder Kunden suchen und diese glücklich machen.

Nach ein paar Wochen teilte ich die Klasse in Zweiergruppen auf und stellte ihnen den Rahmen vor für die Projekte. Sie durften ihre eigenen Ideen umsetzen. Die einzige Anforderung war, dass sie aus zwei Möglichkeiten eine Challenge auswählen:

  • Entweder die Welt verändern oder
  • Kunden suchen und diese glücklich machen.

In diese Challenges passt fast alles hinein, das irgendeine Wirkung nach Aussen hat.

Die Armut der Begierde

Das sichere Umfeld zu kreiren ist mir nach Jahren der Übung irgendwann gelungen. Schon tauchte jedoch das nächste Problem auf: Die Lernenden hatten kaum eigene Ideen und Wünsche. Jetzt ging es für einmal nicht darum, irgendwelche Erwartungen zu erfüllen, sondern darum, was sie wirklich, wirklich wollten, wie Frithjof Bergmann es nennen würde.

Ich fand es erschreckend, wie wenig Zugang die jungen Erwachsenen zu sich selbst und zu ihren Wünschen hatten. Es ist eine Armut der Begierde, wie man mit Bergmann sagen könnte. Diese Armut verschwindet auch als Erwachsene nicht so einfach so.

«Es ist durchaus vorstellbar, dass es mehrere Jahre intensiver Therapie braucht, bis wir wirklich einmal etwas ‹ganz aus uns selbst› zu tun vermögen. Dass wir es einfach und geradeheraus und direkt tun können, einfach weil es das ist, was wir wollen.»

Frithjof Bergmann, “Neue Arbeit, Neue Kultur”, 2004, S. 135

Die Erlernte Hilflosigkeit

Nicht nur fehlt der Zugang zu sich selbst, sondern meistens haben junge Erwachsene auch überhaupt kein Gefühl dafür, was sie in der Welt ausserhalb des Schulzimmers bewirken können. Manchmal fielen Sätze wie: «Es braucht doch da draussen gar nichts, es ist ja schon alles da.»

Die Deutsche Politikerin, Marina Weisband, nennt dies die erlernte Hilflosigkeit von Schüler:innen.

«Erlernte Hilflosigkeit ist die aufgrund negativer Erfahrung entwickelte Überzeugung, die Fähigkeit zur Veränderung der eigenen Lebenssituation verloren zu haben und für diesen Zustand selbst verantwortlich zu sein.»

Wikipedia

Kleine Kinder haben noch Ideen, wollen überall mithelfen und die Welt um sie herum gestalten. Doch dann treffen sie auf Erwachsene, die ihnen mit ernster Stimme alle das Gleiche sagen: «Jetzt ist für dich die Zeit des Lernens und nicht des Tuns. Nur noch ein paar Jahre stillsitzen, bis du mit allem Wissen gefüllt und gross genug bist. Wenn du dies brav tust, wirst du jemanden finden, der dir eine schöne Arbeitsstelle gibt. Dann kannst du mitwirken und es wird dir gut gehen.»

Jede Idee ernst nehmen

Die Situation ist nicht aussichtslos. In jeder Klasse gibt es einzelne, die einen Zugang finden und sich irgendwann wagen, eine Idee zu äussern.

Wenn jemand eine ehrliche und oft noch sehr unfertige Idee ausdrückt, ist dies ein sehr sensibler Moment. Ich habe deshalb eine oberste Regel für Ideen aufgestellt, die für mich und für die ganze Klasse gilt (man kann sie auch im Freundeskreis anwenden):

Wichtigste Regel: Ideen werden NIE kritisiert!

Jede Idee wird ernst genommen. Es gibt keinen Grund, eine Idee zu kritisieren. Sobald ich als Lehrperson ausdrücke, dass ich eine Idee schlecht finde, geht es wieder um mich, um mein Urteil und um meine Erwartungen. Sehr schnell landet man im Gegeneinander.

Ich musste also immer wieder dem Impuls für gutgemeinte Kritik widerstehen. Und das war eine echte Herausforderung, denn manche Ideen waren völlig unausgereift oder richtig blöd.

Mit etwas Training habe ich es irgendwann geschafft, die Ideen und die Verantwortung für die Ideen bei ihnen stehen zu lassen. Ich stellte mich an ihre Seite und bot an, sie bei der Umsetzung zu unterstützen.

Wenn das gelingt, passiert nämlich etwas Erstaunliches: Die Ideen entwickeln sich und werden immer besser!

Es braucht mein Urteil als Lehrperson nämlich gar nicht. Denn in dem Moment, in dem eine Gruppe das Schulzimmer verlässt und mit ihrer Idee hinausgeht in die Welt oder mit Kunden spricht, erleben sie sehr schnell ein Feedback. Das kann auch hart sein. Aber dann sind meine Aufgabe als Lehrperson die Schönsten, die es gibt: Ich kann sie ermutigen, trösten und unterstützen, damit sie es nochmals versuchen. In diesem Weg ist unglaublich viel Lernen drin und irgendwann hat jede Gruppe, wenn sie dran bleibt, ihre Ideen so weiterentwickelt, dass sie Erfolge erlebt.


Titelbild: Generiert mit Dall-E (“an illustration of a rabbit with a light bulb walking away, digital art”).