Lernende:r, du bist hier gefragt

Irgendwann hatte ich in der Schule keine Lust mehr darauf, dass sich alles um mich als Lehrperson dreht: Die Lernenden sitzen im Schulzimmer, weil ich das verlange. Ich gebe den Inhalt und den Takt vor. Ich sage, was zählt und ich beurteile die Lernenden am Schluss mit Noten. Die Aufmerksamkeit der Lernenden ist damit stets auf mich und auf meine Erwartungen an sie gerichtet. Das wollte ich ändern.

In dieser Serie geht es um Lernen aus intrinsischer Motivation. Wenn man von einem Schulsystem umgeben ist, das auf externem Druck und Machthierarchien basiert, braucht es kreative Hacks, damit solches Lernen gelingen kann. Achtung, manche dieser Hacks können im sozialen System Schule eine Immunreaktionen auslösen!

  1. Einführung ← du bist hier
  2. Auf Augenhöhe
  3. Jede Idee ernst nehmen
  4. Wie ich die Noten abschaffte
  5. Das Ende des Klassenzimmers
  6. IKIGAI, die Schule und das Leben (folgt)
  7. Ein anderes Bildungssystem ist ganz einfach möglich (folgt)
  8. usw.

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Andere Motivationsquellen

Mein Ziel war, dass die Lernenden in meinem Fach einen eigenen Weg wählen konnten. Ich würde sie unterstützen mit allem, was ich kann. Aber ich habe mich geweigert vorzuschreiben, was sie tun sollen.

Es ging mir darum, für intrinsische Motivation Raum zu schaffen. Ich sage bewusst “Raum schaffen”, denn erzwingen kann man es nicht. Die Lernenden sollten an eigenen Projekten arbeiten, weil sie es selbst wollten. Wenn nichts passierte oder es so scheint, als würde nichts passieren, musste ich dies aushalten können.

Es ging darum, dass sie sich und ihre Motivation entdecken – aber nicht nur. Denn das würde irgendwann weltfremd. Wir gingen nach Draussen und suchten uns Kunden, die wir glücklich machen oder Dinge in der Gesellschaft, die wir verändern konnten.

Kunden, die Welt oder sich selbst waren “erlaubte” Motivationsquellen, aber einfach nicht die erfundenen Vorgaben von mir als Lehrperson. Denn Schulen und Lehrpersonen sind trügerische Referenzpunkte (siehe dazu auch Schule braucht Gesellschaft, Schule in einer VUCA-Welt und Schule in der Taylorwanne).

Dies war jedoch nicht einfach. Die Lernenden kamen in mein Fach “WEB” im letzten Lehrjahr ihrer Ausbildung an der Wirtschaftsmittelschule. Bis da hatten sie bereits 11 Jahre Vollzeitschule hinter sich. Das sind rund 15'000(!) Lektionen, bei denen sie selbst als Person kaum gefragt waren. Meistens stand die Lehrperson im Zentrum und verabreichte streng getaktet den obligaten Stoff.

Man kann sich vorstellen, wie schwierig sich nach jahrelanger Konditionierung ein Wechsel des Referenzpunktes gestaltet.

Du bist gefragt!

Im WEB ging es um digitale Fähigkeiten, Teamarbeit und unternehmerische Projekte. Ich hatte wenig inhaltliche Vorgaben und ein Jahr lang jeweils einen ganzen Nachmittag pro Woche. Also relativ viel Zeit.

Standup Meeting

Wir arbeiteten in der Regel in Zweiergruppen. Ich startete die Nachmittage oft mit einem Standup Meeting und drei Fragen an die Gruppen:

  1. Rückblick: Was habt ihr seit dem letzten Meeting erledigt?
  2. Ausblick: Was wollt ihr heute erreichen?
  3. Hindernisse: Wo gibt es Hindernisse und wo möchtet ihr Unterstützung?

In den ersten Wochen waren die Lernenden jeweils ziemlich irritiert. Denn normalerweise sagt die Lehrperson, was zu tun ist. Dass ich sie fragte, was sie selbst erreichen wollten und wofür sie mich einsetzen möchten, war ungewohnt für sie. Es war, als würden sie mir nicht glauben, dass ich es ernst meinte damit, dass ihre Ideen und ihre Interessen, ja sie selbst als Person gefragt waren.

Tipping Point

Es dauerte jeweils fast drei Monate, bis einzelne Gruppen den Mut aufbrachten, sich verletzlich zu zeigen und ihre echten Ideen und Wünsche zu äussern. Sie taten es meist ganz leise und in einem vertraulichen Gespräch. Ich versuchte stets, auf JEDE IDEE POSITIV zu reagieren und ihre Vorhaben zu ermöglichen, soweit ich es irgendwie verantworten konnte.

Die anderen Gruppen beobachteten haargenau, was passierte. Sie sahen, wie einzelne Gruppen richtig tolle Sachen umsetzen konnten und von mir Unterstützung und viel Freiraum erhielten.

Bei allen Klassen gab es irgendwann einen Tipping Point, wenn sich die anderen Gruppen fragten: “Warum machen wir nicht auch etwas Spannendes, wenn wir schon jede Woche gefragt werden, was wir tun wollen?”. Und dann geht es los!

Ein Lernender hat diesen Moment in einem Feedbackformular beschrieben:

Ich habe am Anfang im WEB nicht so viel gemacht. Erst Mitte Dezember habe ich begonnen, mich zu arrangieren. Meine Devise lautete: “Wenn ich schon 4 Lektionen am Dienstag hier bin, dann kann ich auch etwas machen”.

Martin (17)

Ganz viel Lernen

Wenn Gruppen ihre eigene Motivation entdecken, wenn sie raus gehen und etwas bewirken wollen und wenn sie schliesslich bei sich und bei anderen eine Wirkung erzielen, dann ist das etwas vom Schönsten! Emotionen sind dabei und der Lern-Turbo wird gezündet auf allen Ebenen.

Mich als Lehrperson braucht es immer noch, aber ich stehe nicht mehr im Zentrum oder frontal gegen sie, sondern ich bin an ihrer Seite und begleite sie.

Was braucht es, damit dies gelingt?

Es müssen ziemlich viele Rahmenbedingungen stimmen, damit Lernen und gemeinsames Arbeiten auf diese Art möglich wird. Für mich war es eine lange Entdeckungsreise. Ich habe viele Jahre damit verbracht, mit duzenden von kleinen Versuchen zu scheitern.

Wovon ich inzwischen überzeugt bin: Ohne Spielregeln der Schule zu brechen, hätte ein Wechsel zu innerer Motivation nicht funktioniert.

Einiges davon kann ich erst jetzt schreiben, da ich seit diesem Sommer keine Lehreranstellung mehr habe. Denn wenn bekannt gewesen wäre, dass ich mich an viele Lehrpersonen-Regeln nicht halte, so wäre der Druck der Organisation sehr gross geworden, mich gefälligst wieder einzuspuren. Und dann wäre es mit der erwünschten Kultur in meinem Fach zu Ende gewesen.

In den nächsten Tagen schreibe ich über Gelingensbedingungen für Lernen aus intrinsischer Motivation in einem System, das auf externen Druck und Leistungskontrollen setzt:

  1. Einführung ← du bist hier
  2. Auf Augenhöhe
  3. Jede Idee ernst nehmen
  4. Wie ich die Noten abschaffte
  5. Das Ende des Klassenzimmers
  6. IKIGAI, die Schule und das Leben (folgt)
  7. Ein anderes Bildungssystem ist ganz einfach möglich (folgt)
  8. usw.

*Namen der Lernenden wurde geändert.

Titelbild: Generiert mit Dall-E (“an illustration of a young person sitting on the world that is turning around itself, digital art”).